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Und wieder: Vereinfachte Ausgangsschrift (VA)

 
10. April 2011
Und wieder: Vereinfachte Ausgangsschrift (VA)
Kategorie: Schriftkultur
Eine erneute Zuschrift:

Sehr geehrte Frau Pfeiffer,
beim Lesen im Internet bin ich zufällig auf Ihre Abhandlung über die Vereinfachte Ausgangsschrift gestoßen und möchte mir erlauben, mich mit einigen Fragen an Sie zu wenden. Mich treibt das Thema derzeit sehr um und ich benötige einen Rat.
Unsere Tochter wird im August auf Antrag eingeschult; sie wird dann 5,5 Jahre alt sein. Die Schule lehrt die VA. Als unsere Tochter letztens auf einem doppelt beschrifteten Bild die VA und die LA im Vergleich sah, sagte sie spontan: »Igitt! Das sieht ja eklig aus!« und zeigte auf die VA. Sie setzte sich mit dem Bild hin und malte den LA-Schriftzug nach — sie hatte den Bogen sofort raus. Bislang hatte sie gedruckt. »Das geht ja viel leichter so! Da muss man nicht jedes Mal neu ansetzen! Ich lerne das doch besser gleich so!« sagte sie mit Überzeugung. Seither schreibt sie ihren Namen und die ihrer Freunde nur noch in LA.
Wenn ich auch nichts dazu gesagt habe, sprach mir das Mädchen aus der Seele.
Ich habe dann recherchiert. Mir stellen sich die Nachteile der VA wie folgt dar.

• Die Schrift schwingt nicht, es entsteht kein Fließgefühl; die Schrift wird gestückelt.

• Die unverbundenen Initialen zerstören das Wortbild und behindern die Abspeicherung der richtigen Schreibweise über das Wortbild.

• Beim schnellen Schreiben entgleitet die Schrift ins Unleserliche. Sie ist daher schlecht geeignet, um Notizen zu machen oder etwa in einer Klassenarbeit oder einer beruflichen Situationen schnell viel Text zu Papier zu bringen. Diese Probleme stellen sich nicht im Grundschulalter, sondern etwa ab Sek1, wenn die Schrift sich beschleunigt. Damit ist die Hauptfunktion der Schrift nicht gewährleistet.

• Die meisten weichen dann auf Druckschrift aus, u.a. auf Empfehlung von Lehrern, die die Schrift nicht lesen können. Mit Druckschrift lässt sich jedoch bestenfalls das halbe Tempo erreichen.

• Sie ist für viele Menschen, u.a. sämtliche anderen Europäer, unlesbar und für die Notierung der französischen Sprache gänzlich ungeeignet.

• Der ästhetische Aspekt ist hierbei außer Acht gelassen.

Die Vorteile scheinen mir vor allem in der besseren Computerisierbarkeit der Schrift zu liegen.
Ich beobachte im Familien- und Freundeskreis, dass die älteren Kinder sämtlich eine »Sauklaue« haben und ungern schreiben. Von unseren Azubis der letzten Jahre konnte niemand richtig schreiben; alle verwendeten sie seltsame Drucktechniken, die sehr langsam waren. Die Unterweisungen wurden dadurch sehr verlangsamt und erschwert. Zwei von ihnen waren Abiturientinnen mit sehr gutem Zeugnis! Allmählich wird mir klar, woran das liegt. Ich muss sagen, dass mich die Recherchen zum Thema VA und die Schriftbilder, die sich daraus entwickeln, regelrecht schockiert haben. Es ist mir ein Rätsel, warum dieses Thema im Zuge der PISA-Diskussion und der »großen Jungs-Krise« nicht aufs Tapet gebracht wird. Es handelt sich doch um DIE grundlegende Kulturtechnik schlechthin!
Ich möchte aus dem Bauch heraus behaupten: Wer so schreiben lernt, wird sich in der Welt der Sprache, der Schrift, der Bücher niemals zuhause fühlen.

Nun ist meine Tochter ein ausgeprägtes Sprachwesen. Sie ist darin fabelhaft entwickelt, liebt Bücher über alles, ist sehr sprachbewusst, erzählt wunderbare Geschichten; sie freut sich aufs Lesen und Schreiben. Zudem hat sie Schönheitssinn, sie verziert ihre Buchstaben liebevoll.
Ich fürchte sehr stark — nein, ich bin in meiner Mutterseele ganz sicher — dass die VA meiner Tochter den Zugang zu der für sie so zentralen Sphäre erschweren oder sogar unmöglich machen wird. Diese Schrift wird meiner Tochter schaden. Sie wird ihre Talente und wichtige Bereiche ihrer Persönlichkeit dadurch schlechter entwickeln können. Und natürlich wird die Schrift ihr auch viel schlechter dienen können, bei all den vielen alltäglichen Gelegenheiten, für die man eine schnell funktionierende Handschrift braucht.

Aus diesen Gründen bin ich nach langem Überlegen zu dem Schluss gekommen, dass ich (entgegen vorheriger Absichten) doch vor der Schule beginnen werde, ihr die LA beizubringen — in der Hoffnung, dass sie darin bereits zuhause ist, wenn der Schreibschrift-Unterricht in der 2. Klasse beginnt. Feinmotorisch ist sie jetzt soweit und ihre eigene Aussage in der eingangs beschriebenen Schlüsselszene war eindeutig. Wird dies meine Tochter in eine Außenseiterrolle bringen? Ich kann nur hoffen, dass die Lehrerin von Umerziehungsversuchen absieht und die Schriftabweichung nicht als Affront empfindet.

Meine Fragen an Sie:

• Sehen Sie die Nachteile der VA ebenso?

• Wie schätzen Sie die Vorteile der VA ein?

• Kann man auf VA-Basis eine funktional und ästhetisch zumindest akzeptable Handschrift entwickeln?

• Können Sie sich erklären, warum diese Schreibkatastrophe sowenig thematisiert wird? Im Zuge von PISA ist soviel über mangelndes Textverständnis geschrieben worden; niemals fiel dabei das Stichwort »VA«.

• Wiegen die Vorteile der LA die evtl. sozialen Nachteile auf; kann/darf/muss ich meinem Kind das zumuten?

• Haben Sie mit derartigen Situationen (einzelnen Schrift-Abweichlern) irgendwelche Erfahrungen? Wie reagieren Lehrer darauf?

• Haben Sie Tipps für mich, sowohl was das Unterrichten meiner Tochter angeht, als auch, was das notwendige Gespräch mit der Lehrerin betrifft?

• Können Sie mir Bücher in LA empfehlen?

• Gibt es eine Initiative gegen die VA — oder was noch schockierender ist, gegen das Abschaffen der Schreibschrift in toto?

Ich danke Ihnen sehr!

Freundliche Grüße

Johanna J.

Antwort:

Sehr geehrte Frau J.,

jede Zuschrift ist mir Beweis dafür, wie wichtig es ist, immer wieder auf folgenreiche Fehlentwicklungen der Zeitgeistpädagogik hinzuweisen. Nur eine Minderheit ist bereit, sich kritisch mit ärgerlichen Tatsachen auseinanderzusetzen. Gerade diese Minderheit repräsentiert aber die Bildungsschicht, von der Anstöße zur künftigen Genesung kommen. Deshalb danke ich Ihnen, daß Sie sich an mich wenden. Ob ich Ihnen mit gutem Rat dienen kann, weiß ich nicht. Versuchen wir es!

Die Nachteile der VA sind korrekt dargestellt. Interessant für mich ist die Aussage, daß die VA für Personen aus einem anderen als dem deutschsprachigen Raum »unlesbar« sei. (Hier fällt mir sogleich die unsinnige und ebenso schädliche Rechtschreibreform ein, nach der es für Deutschlernende aus anderen Sprachen ebenfalls viel schwieriger geworden ist, Texte zu lesen oder/und zu schreiben.) Auch Ihre Beobachtung, daß Kinder ungern schreiben, bestätigt, wovor ich seit Jahren warne: Was der Mensch nicht gut kann, worin er unsicher ist, und was obendrein noch häßlich ist, meidet er nach Möglichkeit! Es ist auch ein Irrtum zu glauben, die Beherrschung der Handschrift sei in unserer Computerzeit nicht mehr nötig. Durch die Handbewegung entstehen Verbindungen im Gehirn: Schreiben mit der Hand macht klug!

Ihre Befürchtungen bezüglich des Schadens, den Lernfreude und Schönheitsempfinden Ihrer Tochter Schaden nehmen könnte, wenn sie in eine Schrift gezwungen wird, die häßlich und wenig funktional ist, teile ich. Mit dem Kind die LA zu üben, ehe es in der Schule Schreibschrift lernt, ist eine Art Notwehrmaßnahme — Probleme mit der Lehrkraft sind nicht auszuschließen. Ich selbst würde es jedoch auch so machen ... Wenn das Kind zu Hause einen großen emotionalen Rückhalt hat, kann es mit einer Außenseiterrolle leben, ja es kann dabei zu starkem Selbstbewußtsein kommen. Zur Entwicklung der Persönlichkeit tragen Probleme, gut dosiert, mehr bei als stromlinienförmiges, ängstliches Mitmachen. Es kommt viel darauf an, welches Vertrauensverhältnis zwischen Ihnen und dem Kind besteht. Wenn Sie merken, daß die Nachteile der Hausunterweisung größer sind als die Vorteile, können Sie das Experiment jederzeit abbrechen. Kinder sind ungemein flexibel und schauen voller Vertrauen auf das, was die Mutter sagt — und tut!

Zu Ihren abschließenden Fragen:

• Die Nachteile der VA sehe ich genauso wie Sie, wie weiter oben bereits ausgeführt.

• Irgendwelche Vorteile der VA kann ich nicht erkennen. Auch die leichtere Computerisierung ist keiner — wofür haben wir denn Handschrift? Um Technik zu füttern? Wohl doch eher nicht.

• Weshalb wird die »Schreibkatastrophe« so wenig thematisiert? Weil es in Deutschland, nicht nur bei der Lehrerschaft, viel Resignation und bei allen Staatsangestellten einen weit vorauseilenden Gehorsam gibt. Zahlreich ist die Gegnerschaft der Retortenschrift VA, und die Begeisterung, sie zu unterrichten, hält sich in deutlichen Grenzen. Doch meinen fast alle, sich nicht dagegen auflehnen zu dürfen. Dabei gerät die eigene Verantwortung, die gelebte pädagogische Freiheit des Lehrers und Erziehers, ganz aus dem Blick. Wer fälschlicherweise glaubt, der Obrigkeit hilflos ausgeliefert zu sein, verstummt schließlich und tut nach außen so, als stünde er auch ethisch und sachlich hinter seinem Gehorsamshandeln. Denken Sie an die Fabel mit dem Fuchs und den sauren Trauben! Wir alle verhalten uns gelegentlich wie jener Fuchs, wenn uns die süßen Früchte unerreichbar sind.

Außerdem — und dieser Aspekt darf nicht vergessen werden — wird jede Schulreform auch aus wirtschaftlichen Gründen betrieben; Gewinnstreben und persönliche Geltungssucht sind ein kräftiger Motor. Begünstigte sind jedoch nicht Lehrer, sondern Personen, die außerhalb des eigentlichen Schulbetriebs stehen. Es sind dies verschiedene Fachleute und Berater in meist staatsnah wirtschaftenden oder politisch abhängigen gesellschaftlichen Einrichtungen. Die Folgen ihrer Tätigkeit werden buchstäblich »auf dem Rücken der Schüler« ausgetragen. Man möchte jedem engagierten Lehrer wünschen, daß er dieses Spiel durchschaut und sich nicht leichtfertig dafür hergibt. Tatsächlich besitzt die normale Lehrkraft nämlich mehr Einflußmöglichkeiten, als sie ahnt. Bequem ist das Standhalten und Dagegenhalten freilich nicht! Es würde jedoch zu mehr Berufszufriedenheit führen und — Kinder wie Eltern zufriedenstellen, was wiederum für die Atmosphäre in der Schulklasse von großer Bedeutung ist.
Nun aber sind das Wunschphantasien. Angebracht wäre es, bei unsinnigen Reformzumutungen der Schreibtischtäter zu sagen: Halt! Das ist Unfug! Das funktioniert so nicht in der Praxis! Stattdessen hat man sich daran gewöhnt, den größten Quatsch zu akzeptieren und Widernatürliches im Unterricht zu realisieren. Es gibt inzwischen eine Gleichgültigkeit unter den Lehrern, die erschreckend ist.
Die Eltern wiederum haben keine Ahnung von den Zusammenhängen. Die meisten von ihnen denken, nur die eigenen Kinder hätten Probleme. Daß hier ein ganzes System auf falschen Geleisen in eine Sackgasse fährt, darauf kommen nur wenige. Dazu kommt der Umstand, daß niemand wirklich Böses will; die Probleme sind systemimmanent, das heißt, der Ärger ergibt sich aus den Umständen, die vom einzelnen nicht geändert werden können. Wenn wir an die Schrift denken, dann ist es den meisten nicht um Ästhetik zu tun, wie das bei Ihnen der Fall ist. Man schielt auf die Zensuren. Ein gutes Abgangszeugnis ist, was zählt.

• Ob Ihr Kind Schwierigkeiten in der Schule bekommen könnte, wenn es die LA benutzt, ist unmöglich vorauszusagen. Alles hängt mehr oder weniger von Persönlichkeit und Charakter der künftigen Lehrkraft Ihrer Tochter ab. Das wird Sie wenig trösten — aber es kommt nun einmal alles auf den Menschen selbst an. Gehen Sie diplomatisch vor; seien sie selbstbewußt, aber nicht überheblich! Und sollten die Widerstände zu groß werden, ist es besser, nachzugeben.

• Bücher in LA — meinen Sie zum Erlernen der LA? Am besten wäre es, in alten Schulbibliotheken nach übriggebliebenen Werken zu suchen, oder bei Ebay?

• Sie fragen nach einer Initiative gegen die VA! Lehrer und ihre Gewerkschaften gründen Initiativen für Gehaltserhöhungen und Steuererleichterungen oder gegen Arbeitszeitverlängerung. Bei allen gewerkschaftlichen Initiativen geht es grundsätzlich nur um Besitzstandswahrung bzw. -erweiterung des jeweiligen Berufsstandes. Eine Lehrergewerkschaft gegen eine untaugliche und unzumutbare Retortenschrift? Nein, so etwas kann ich mir nun überhaupt nicht vorstellen.

Eltern müssen heute selbst Initiative ergreifen, wenn sie wünschen, daß ihre Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen. Zwar gibt es immer noch Ausnahmen, meist sind es Lehrer alten Schlages, die sich nicht mit den neuen Methoden abfinden wollen. Aber diese sterben allmählich aus.
Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Glück bei Ihren Bemühungen. Vielleicht informieren Sie mich gelegentlich über die Entwicklung in dieser Angelegenheit.

Ihrem Töchterchen alles Gute!

Mit freundlichen Grüßen

Karin Pfeiffer

Zum Weiterlesen:

Vom Abschreiben
Weshalb wir die Handschrift pflegen sollten (Teil I)
Weshalb wir die Handschrift pflegen sollten (Teil II)
Computer und Lernen
Vereinfachte Ausgangsschrift
Die VA: Eine Schrift aus der Retorte

Zum Verständnis der unsinnigen Reformwut in Schulen:

Wer hat das Sagen in deutschen Klassenzimmern


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