War es vor rund 20 Jahren das Deutschdiktat, welches als Ursache für Schulangst und Lernversagen aus dem Methodenschatz der Schulpädagogik entfernt wurde, so steht heute – in konsequenter Weiterentwicklung dieses Gedankens – das Schreiben selbst zur Disposition. Schon sind technische Geräte entwickelt, die es lese- und rechtschreibschwachen Schülern ermöglichen, Lernstoff allein über das Ohr aufzunehmen. Neu entwickelte »Lesestifte« tun das, was früher alle Schüler bereits im ersten Schuljahr lernten und alsbald recht gut beherrschten: sie lesen Texte laut vor. Wem es gefällt, der kann bald »lesen und schreiben lassen«. Wir sind dabei, unsere Kompetenzen an Maschinen abzugeben und meinen, die Bedienung der Maschine ersetze eigenes Können und Wissen. Ahnen wir, was wir da in Gang setzen? In einem 1995 erschienenen Buch warnt Barry Sanders, Professor für englische Literatur und Ideengeschichte vor dem Verlust der Sprachkultur. Es war das Wort, das den Menschen zum Menschen machte, die Sprache, die Kultur schuf und damit unsere arbeitsteilige Welt, die zu noch nie dagewesenem Wohlstand geführt hat. Da es so selbstverständlich erscheint, lesen und schreiben zu können, gerät allmählich in Vergessenheit, daß Kinder und Jugendliche sich diese Fertigkeiten erst einmal aneignen und diese pflegen müssen. Inzwischen werden sogar bei Kleinkindern akademischer Verstand und angeborenes Interesse an Fachwissen vermutet, weshalb man damit begonnen hat, die armen Hascherle zu beschulen. In unserer Gesellschaft paßt nichts mehr zusammen. Wir tun nur noch als ob Die moderne Pädagogik befaßt sich weniger mit psychologischen Voraussetzungen für das Lernen als mit einer als fortschrittlich empfundenen Technik, die nicht das Lernen selbst fördert, sonder das »Als-ob«. Und alles spielen mit: Am Computer Tasten drücken, und Textbausteine auswählen, als ob man lesen und schreiben könne. Referate ausdrucken, als ob man sich Wissen angeeignet habe. Eine Rechenmaschine bedienen, als ob man rechnen könne. Aus mehreren vorgegebenen Antworten reflexhaft die wahrscheinlichste auswählen, als ob man denken könne. Die Pädagogik ist in erster Linie Wirtschaftsfaktor, Bildungspolitik ist vornehmlich umsatzorientierte Beschäftigungspolitik; die Schüler sind in diesem Treiben der am schlechtesten angepaßte Faktor. Daß inzwischen immer mehr von ihnen die Schule verlassen, ohne richtig lesen, schreiben und rechnen zu können, sollte ein Alarmzeichen sein – es verweist auf das völlige Versagen der Schulpädagogik. Auch wenn sie es noch nicht artikulieren können, so spüren sie doch, daß sich im Schulbetrieb kaum jemand für persönliche Anstrengung und Leistung interessiert. Lernen tut weh. Und wenn Schriftkultur nicht durch anteilnehmende Personen vermittelt wird, kann kein Kind sich mit ihr anfreunden. Schreibschrift ist kein Luxus Und nun ist man drauf und dran, auch noch die Schreibschrift als scheinbar unnötigen Ballast über Bord des schulischen Stundenplans zu werfen. Jedem, der sich den Luxus eigener Gedanken zu dieser Entwicklung gönnt, wird rasch klar, daß das Senken von Anforderungen noch nie zu einer Besserung der Fähigkeiten geführt hat. Die Geringschätzung der Schreibschrift ist der Beginn zur Geringschätzung des manuellen Schreibens generell. Es wird nicht lange dauern, ehe auch dieses in der Schule als überflüssige Zeitverschwendung aus den Stundenplänen gestrichen sein wird. Auch das Tippen auf den Tastaturen wird in der Folge als Zumutung empfunden werden. Die Schriftkultur als solche steht dann zur Disposition. Lesen und Schreiben gehören zusammen Lesen und Schreiben sind die zwei Seiten einer einzigen Medaille. Eines ist ohne das andere nicht denkbar. Wer das Schreiben nicht mehr pflegt, wird auch des Lesens bald nicht mehr mächtig sein. Wir sind auf dem Weg, uns von der Schriftsprachigkeit zu verabschieden, weil wir sie unseren Kindern nicht mehr zumuten wollen! Wie aber verträgt sich das mit der Beobachtung, daß bereits Dreijährige mit erstem »akademischem« Wissen bekanntgemacht werden? Die Verfrühung treibt seltsame Blüten. Spätestens in der Grundschule haben diese Frühbeschulten die Nase voll von der modernen Pädagogik und bleiben gegenüber jenen »vernachlässigten« Kameraden zurück, die das »Pech« hatten, zu Hause bei der Mutter bleiben zu müssen, während die anderen in die Krippe gebracht wurden. Das seltsame Verständnis dessen, was Kleinkinder wirklich brauchen, ist unserer Schriftkultur auf längere Sicht mehr als abträglich. Sprachtradition nicht geringschätzen Ehrfurcht vor dem Wachsen und Werden einerseits, geduldige Vermittlung von Sprache und Schrift im Kontext liebevollen Miteinanders, und nicht die fragwürdige Hilfe durch Maschinen. Das wäre der Weg. Ein Blick über den Ozean zeigt, wohin die Reise geht. Wenn wir in die jetzige Richtung weitergehen, werden wir uns darauf einzurichten haben, daß die Zahl der Lese- und Schreibkundigen sinkt. »Die Pistole ist das Schreibgerät des Analphabeten«, warnt uns Barry Sanders in seinem sehr lesenswerten Buch. Wie viele Beweise sind nötig, damit wir das glauben? Karin Pfeiffer Lesetip: Barry Sanders: Der Verlust der Sprachkultur. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998 |