Der Mensch benötigt ein Ziel. Je konkreter ihm dieses Ziel vor Augen steht, desto mehr wird er sich anstrengen, wird er trotz Schwierigkeiten durchhalten können. Das »Prinzip Hoffnung« ist nichts anderes als ein bestimmtes Ziel, das er zu erreichen hofft. Die Hoffnung ist der Treibstoff, aus dem der Lebensmotor gespeist wird. Wer setzt die Ziele, die wir anstreben? Nun, sie sind uns gesetzt. Vorgegeben durch Tradition und Gewohnheit. Wir sehen unser Ziel darin, es den anderen Menschen gleichzutun, es besser zu machen. Ja, auch das Messen der eigenen Kräfte gehört dazu! Leistungswettbewerbe geben genaue Ziele vor. Im Sport sind Wettkämpfe die Regel, und niemand findet etwas Verwerfliches daran. Jeder Teilnehmer eines Volkslaufes strebt selbstverständlich danach, so schnell wie möglich durch das Ziel zu laufen, den anderen zu überflügeln. Freude am leistungsbetonten Wettstreit setzt jedoch klare Regeln voraus, über deren Einhaltung streng gewacht werden muß. Wer einmal an einem Volkslauf teilgenommen hat, weiß, daß sich nicht nur die ersten drei Sieger freuen, sondern alle, die ihr Bestes gegeben haben und — im Rahmen ihrer Möglichkeiten und der Leistungsklasse — erfolgreich waren. Die Einteilung nach Geschlechts- und Altersklassen ist eine notwendige Maßnahme, um den unterschiedlichen Teilnehmern eine gerechte Wettbewerbsbasis zu schaffen. Kein Fünfjähriger könnte gegen den Sechzehnjährigen gewinnen. Frauen laufen nicht so schnell wie Männer. Aufgrund dieser unbestrittenen Tatsachen ist im Sport niemals die Forderung nach Zusammenlegung aller Geschlechts- und Altersklassen erhoben worden, weil es diskriminiere. Es freut sich jeder, der schneller laufen kann als der andere. Und weil man im Rahmen des Wettkampfes nicht nur gegen die anderen läuft, sondern auch gegen sich selbst, freut sich jeder, der durch das Ziel läuft. Meist ist der letzte Teilnehmer froh, überhaupt dabeigewesen und angekommen zu sein. Gibt es doch unzählige Menschen, die überhaupt nicht laufen können. Wo es einen ersten gibt, gibt es auch einen letzten. Diese Grundtatsache können wir nicht aus der Welt schaffen, und es gehört zu den dringenden Lebensaufgaben des Menschen, dies zu akzeptieren — auch wenn es einen selbst trifft. Man ist ja nicht überall der letzte, denn das Leben bietet vielfältige Betätigungsfelder.
Wir Menschen mögen vor Gott gleich sein, aber Gott hat uns nicht gleich geschaffen. Dafür hat er uns Verstand gegeben, mit dessen Hilfe wir Regeln ersinnen können, die der Unterschiedlichkeit Rechnung tragen. Es ist notwendig, daß Kinder lernen, auch mit unvermeidlichen Niederlagen umzugehen. Denn in jedem Bereich findet man jemanden, der etwas besser kann als man selbst. Der Läufer braucht das Ziel, auf das er sich gemeinsam mit anderen Läufern zubewegt, und bei dem seine Leistung objektiv gemessen und öffentlich anerkannt wird. Es sei nun eine Frage gestattet: Ist das denn beim schulischen Lernen so viel anders? Auch hier wird Leistung verlangt — persönliche Leistung, die nur durch individuelle Anstrengung zu erreichen ist. Sich über die eigene Leistung zu freuen, ist weder böse noch egoistisch. Es ist die pure Lebenslust, die sich darin ausdrückt. Benotungen sind nicht böse, sondern analog der Zeitnehmung beim Laufen der Ausdruck für persönliche Leistung.
Die Zeitnahme beim Laufen ganz abzuschaffen, weil wir nicht ertragen, daß es Unterlegene gibt, hieße, dem Läufer die Freude am Wettbewerb zu nehmen. Die Auflösung der Leistungsklassen bei Volksläufen bewirkte einen Sinnverlust mit dem Ergebnis, daß kaum noch jemand zum Laufen antreten würde. Auch die Schule hat den verschiedenen Begabungen und körperlich-geistigen Voraussetzungen stets Rechnung getragen. Diese klaren Regelungen abzuschaffen zugunsten eines undifferenzierten »Volkslaufes« wird den Schwachen vollends den Mut rauben und den Starken die Freude an persönlicher Leistung verderben. Wo ein fest definiertes Ziel fehlt, wo ein am realen Dasein ausgerichteter Ordnungsrahmen zertrümmert wird, entleert sich das Sinnhafte. Wo der Sinn fehlt, erlahmen die körperlichen und geistigen Kräfte. Wo die Herausforderung, ein bestimmtes Ziel im Wettbewerb mit anderen erreichen zu dürfen, wegfällt, versiegt die Lebensfreude. An ihre Stelle tritt das heute zu beobachtende, mürrische Gerangel um Positionen, die nicht mehr kraft Anstrengung, sondern mittels List und Ellenbogenkraft errungen werden. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Mensch nur dann kultiviert ist, wenn er seine Kräfte unter klaren Regeln und Bedingungen mit anderen Menschen messen darf. So definiert sich Leistung, und diese Leistungsgesellschaft ist nicht ungerecht, sondern zivilisiert.
Karin Pfeiffer |