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Das Pferdekinn

 
07. Oktober 2015
Das Pferdekinn
Kategorie: Humor

Oderberger Gymnasialgeschichten 
Oderberg, Mährisch-Schlesien 1932-1938

Wer könnte ihn vergessen, unseren Englischlehrer Professor Dr. Karl Pohl? Ich sehe ihn noch vor mir, meist sorgsam einen Schal um den Hals geschlungen, leicht hüstelnd, aber von gutgetarnter robuster Gesundheit. Englisch war für ihn mehr als ein Unterrichtsfach, es war fast eine Ersatzreligion. Und Mister McCallum von Radio Wien, der dort eine Englischsendung für Schüler betreute, war sein Prophet. Im Laufe der Zeit etablierte sich eine feste Bindung zwischen dem Englischlehrer der RAVAG*) und unserer Klasse. Die Korrespondenz florierte. Wiederholt wurden wir in den Sendungen aus Wien lobend erwähnt. Das war jedesmal ein Festtag für Professor Pohl. Als McCallum uns schließlich sein Foto mit Widmung schickte, bekam der Radiomann den Rang eines Idols. In jeder Englischstunde lächelte uns McCallum vom Katheder per Foto freundlich zu.

Doch nicht von unserem Äther-Flirt mit dem englischen Radiodozenten soll hier die Rede sein, sondern von einem in der Geschichte des Englischunterrichtes wohl einmaligen Experiment. Ausgangspunkt war der sogenannte „but"-Laut, jenes dunkel eingefärbte phonetische Mittelding zwischen a und e, wie es im englischen Wort „but" ( = aber) vorkommt. Laut Pohl konnte man diesen Laut einwandfrei nur hervorbringen, wenn man ein Pferdekinn besaß. Da solche Kinnpartien in Mitteleuropa selten seien, meinte er, müsse man eben versuchen, wenigstens Annäherungswerte an diese anatomische Besonderheit vieler Engländer zu erreichen. Zu diesem Zweck erfand Professor Pohl eine wohlausgeklügelte Kinn-Gymnastik. Im Kern bestand sie darin, Kinn und Unterkiefer in kurzen Intervallen ruckartig, eigentlich fast schon krampfartig vorwärts und rückwärts zu bewegen.

Ob sich Knochen, Sehnen und Muskeln durch so eine Übung wirklich verändern lassen, ist sicher mehr als zweifelhaft — Pohl glaubte daran. Und deshalb begann ab sofort jede Englischstunde bei uns mit fünf Minuten Kinn-Gymnastik — heute würde man sagen: eine Art Aerobic des Unterkiefers. Hingebungsvoll und völlig lautlos widmeten wir uns dieser Gymnastik. Oben auf dem Katheder betätigte sich Pohl ebenso lautlos als Vorturner der Kinnmuskulaturübungen. Allmählich war uns die Prozedur so vertraut, daß wir sie ganz mechanisch ausführten.

Eines Morgens öffnete sich unvermutet die Tür des Klassenzimmers. Im Türrahmen stand Direktor Günzl. Wie immer in solchen Situationen blickten alle, der Professor eingeschlossen, in einem kollektiven Reflex zur Tür. Und niemandem fiel es ein, mit der Kinngymnastik aufzuhören. Direktor Günzl sah deshalb annähernd 30 Schüler und einen Lehrer, die ihm - in gespenstischer Lautlosigkeit - mit rhythmischem Schwung den Unterkiefer entgegenstreckten.

Was damals im Geiste unseres Direktors vorgegangen sein mag, kann man nur ahnen. Vermutlich glaubte er, in eine Irrenanstalt geraten zu sein. Wortlos retirierte er vor der Phalanx der vorwärtsschnellenden Kinnbacken.

Wenige Minuten später kam Schuldiener Peter mit der Nachricht, Professor Pohl möge sich doch bitte zum Herrn Direktor begeben. Den Inhalt des Gesprächs zwischen den Herren Günzl und Pohl haben wir nie erfahren. Danach war es aber aus mit der Kinn-Gymnastik. Eigentlich schade! Vielleicht hätte der eine oder andere von uns im Laufe der Zeit wirklich ein Pferdekinn bekommen?

Ernst Swiderek

*) Abkürzung für Radio-Verkehrs-AG, die 1924 gegründete österreichische Rundfunkanstalt


aus:
Unvergessene Schulzeit 1914 —1945
Erinnerungen von Schülern und Lehrern
Band 3 aus Zeitgut-Bänden und Zeitgut-Archiv

Zeitgut Verlag, Berlin 2007
Info und Bestellungen:
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 Pferdefotos: pixelio 

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von Doro (09. Oktober 2015, 20:11):
Köstliche Anekdote. Gefällt mir.
Solche Lehrer, die mit Begeisterung und Herzblut bei der Sache sind, liebe ich, auch wenn sie manchmal ihre Schrullen haben. Vielleicht machen gerade die ihre Anziehungskraft aus.
 
von H. K. (10. Oktober 2015, 23:03):
Mir geht es genauso. Stromlinienförmige Lehrer, die keine Persönlichkeit ausstrahlen oder aus Vorsicht unterdrücken, sind für mich lebende, der Anweisung gehorchende Unterrichtsmaschinen. Es sieht aber so aus, als sei dieser Prototyp von Lehrer Produkt und Empfehlung unseres Zeitgeistes. Bürokratisch auf der Höhe, menschlich und persönlich aber kaum wahrnehmbar.
 



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