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Von gemeinsamem Gehen, vom Überholt- und Ausgebremstwerden

 
03. September 2008
Von gemeinsamem Gehen, vom Überholt- und Ausgebremstwerden
Kategorie: Besinnliches

 

Von gemeinsamem Gehen, vom Überholt- und Ausgebremstwerden

Die ältesten Hochgebirgswallfahrt Europas ist die traditionelle "Almer Wallfahrt" über das Steinerne Meer an den bayerischen Königssee. Im Jahr 1635 pilgerten Salzburger Bürger unter großen Strapazen als Dank für die überstandene Pest erstmals im Namen des Herrn von Maria Alm über das Hochgebirge bis nach St. Bartholomä. Diese Wallfahrt findet jedes Jahr am Samstag nach dem 24. August (Bartholomäustag) statt. Etwa 2000 Wanderer, darunter Musiker, Jodler, Pfarrer, Einheimische und Gäste, nehmen an der schweißtreibenden 9-Stunden-Tour durch das grenzüberschreitende Hochgebirge teil. In diesem Jahr war auch ich erstmals dabei. Während des langen Marsches lösen sich die Gedanken, manche Erkenntnis tut sich auf.

  

Bergmesse um 8 Uhr morgens am Riemannhaus in 2.177 Meter Seehöhe

 

Auf breiten Wegen kann jeder sein eigenes Tempo gehen. Eigenartig, welche Gefühle man dabei entwickelt: man mag gut zu Fuß sein und Wanderer überholen, aber immer sind da auch welche, die noch rascher vorankommen. Man überholt und wird selbst ständig überholt. Doch fließt die Masse im Gleichmaß voran, und die geringen Geschwindigkeitsunterschiede der einzelnen spielen kaum eine Rolle. Gleich einem Tropfen im Wasserstrom wird man vorangespült, die Bewegung ringsum wirkt unwiderstehlich wie ein Sog. Unnötig anhalten will niemand, damit er nicht zurückfällt. Doch wohin fiele er zurück? Es kommen Hunderte und Aberhunderte, ein Strom von Menschen, der nicht abreißt. Wer schon einmal einen Volkslauf mitgemacht hat, kennt das Gefühl Mitgerissenwerdens. Nur bloß nicht zurückfallen! Wer sich dem Tempo anpaßt, gehört dazu. Wer sich in der Mitte behaupten kann, fühlt sich aufgehoben.

Und die Langsamen? Sie bekommen ihre Chance, wo der breite Weg in den schmalen Pfad übergeht. Niemand kann hier überholen. Jetzt sind es die Langsamen, die das Tempo angeben. Hinter ihnen staut sich alles. Da drängelt einer, weil er schneller gehen will! Wie ungezügelt, wie rücksichtslos! Rasch wird er durch Gesten und verbale Zurechtweisungen zurückgepfiffen. Wohin kommen wir, wenn hier jeder sein Tempo gehen will! Das wollen alle, aber nur einer kann es, und das ist der, der an der Spitze marschiert ...
Hat im übertragenen Sinne nicht jeder Mensch das Recht, sein eigenes Lebenstempo zu bestimmen, seine Fähigkeiten voll zu entfalten? Wenn die Langsamen das Recht haben, langsam zu gehen, was sagen wir den Schnellen, die auf schmalen Lebenspfaden zu einem, weit unter ihren Fähigkeiten bleibenden, stark gedrosselten Tempo gezwungen sind? Gleiches Recht für alle, so fordert es die demokratisch aufgeklärten Gesellschaft. Aber erkläre uns einer: was ist mit dem schnellen Wanderer auf schmalem Pfad? Geschieht ihm nun recht, weil er nicht so gehen kann, wie er will?

Zurück ins Steinerne Meer. Auf den engen Pfaden durch Geröll und Gestein bildeten sich alsbald regelrechte „Pulks", angeführt von langsam wandernden Pilgern. Der Schwanz dieser Pulks wuchs von hinten, es entstanden Schlangen, und bei manchem Wanderer konnte man die mühsam unterdrückte Ungeduld förmlich spüren. Bald trat man einem Vordermann auf die Ferse, bald spürte jener die Stöcke des nachfolgenden wie einen feindlichen Windhauch am Unterschenkel. Jede noch so kleine Chance wurde zum Überholen genutzt. Wenn der Kopf der Schlange eine kurze Verschnaufpause einlegte, löste sich der Stau im Nu auf. Energisch und leichten Schritts griffen Beine Raum, bewegten sich Körper fort - bis zum nächsten „Hindernis".
Solches Überholen als Rücksichtslosigkeit abzutun, wäre kurzsichtig geurteilt und vergewaltigte die menschliche Seele. Die anthropologischen Wurzeln für die psychologische Erklärung bloßzulegen, ist hier nicht der Ort. Den Pilger auf der Almer Wallfahrt wird es im übrigen kaum bekümmern, wenn er sich in seinem Köperrhythmus vorübergehend an eine ihm nicht gewohnte Langsamkeit anpassen muß. Er nimmt Rücksicht, und das gelingt ihm besonders gut in dieser speziellen Situation.

Im täglichen Leben besitzt nicht Geltung, was für eine Wallfahrt selbstverständlich ist. Es stimmt zwar auch da: der Langsame hat ein Recht auf sein Langsamsein; der Schwache darf auf Rücksicht und Unterstützung hoffen. Jedoch: Wie sieht es für den Schnellen aus? Hat er ein Recht auf das Schnellsein? Darf er tüchtig sein und andere überflügeln, nur weil er dazu in der Lage ist? Ist es Sünde, diese Tüchtigkeit zu zeigen und daran auch noch Freude zu empfinden?
Eine wichtige Frage. Eine offene Frage.
Die Realität verweist auf Fakten: Damit der Langsame den Schnellen nicht behindert und der Schnelle den Langsamen nicht durch seine bloße Ansicht deprimiert, verlaufen viele Lebenspfade von vornherein auf getrennten Wegen. Und dies ist nicht einmal die schlechteste Lösung - doch lasse ich mich auch eines besseren belehren. Auf dem Weg durch das Steinerne Meer aber erkannte ich: Wer ein Hindernis bildet für die anderen, fühlt den Stachel des eigenen Unvermögens, keine noch so gefühlvolle und von ehrlichem Gerechtigkeitsstreben getragene Regelung oder Gesetzgebung vermag ihn darüber hinwegzutrösten. Andererseits wird keine wie auch immer geartete moralische Erziehungsmethode den Unmut der „Ausgebremsten" dämpfen können. Ob dies gerecht sei, fragen sie, aber die Gesellschaft bleibt ihnen darauf eine Antwort schuldig.

Selbstbeschwichtigungen, Kleinreden oder Strafen können Tatsachen nicht aus der Welt schaffen, die in der Welt der Geschöpflichkeit und des Gefühls liegen. Wer Verhaltensregeln für Menschen aufstellt und Institutionen leitet, sollte dies jederzeit bedenken. Man kann nicht alle und alles über einen Leisten scheren, kann nicht Gleichheit und Glück durch gesetzliche Maßnahmen herbeizwingen. Letztlich entscheidet ein ganz anderer. Das erkennt binnen eines einzigen Tages, wer es unternimmt, sich den Strapazen einer Wallfahrt über das Steinerne Meer zu unterziehen.

Karin Pfeiffer

 
 


Kommentare zu diesem Beitrag:
von Ute Schildt-Picht (07. September 2008, 13:05):
Ihre Beiträge lese ich immer wieder mit großem Interesse. Es tut mir jedes Mal gut, meine Meinungen wiederzufinden bzw. auch Anregungen für eigenes und pädagogisches Handeln zu erhalten.
DANKE!
 
von Ursula Biela (29. September 2008, 08:50):
Liebe Frau Pfeiffer, wie immer habe ich mich über Ihren Kommentar gefreut. Ihr Verlag ist wirklich eine Insel für alle, deren Pädagogikverständnis über "Job" und Wissensvermittlung hinausgeht. Ich bin Ihnen dankbar für den Mut, Ihre persönlichen Erfahrungen und Ansichten öffentlich zu machen und so in mir und vielen anderen das Vertrauen zu stärken, in schwierigen Zeiten auf einem gemeinsamen Weg zu sein. Ich wünsche uns allen nicht nur die Kraft für diesen Weg, sondern auch zur gelegentlichen Gipfelstürmerei - Ihrem Vorbild folgend. Ursula Biela Kinder und Jugendlichen Psychotherapeutin
 



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