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Extra-Njuuslätta Nr. 23 - Mai 2009 (ß-Schreibung)

 
13. Mai 2009
Extra-Njuuslätta Nr. 23 - Mai 2009 (ß-Schreibung)
Kategorie: Newslettertexte
Erziehung ins soziale Abseits

Liebe Lehrer!
Liebe Eltern!

Heute will ich eine Episode schildern, welche sich erst vor wenigen Wochen genauso abgespielt hat. Ich besuchte den Sonntagsgottesdienst. In unserer kleinen Kirche befindet sich bei der letzten Sitzreihe eine Holzbox mit zahlreichen bunten Bilderbüchern, damit den jüngsten Kirchenbesuchern die Zeit nicht so lange werde. Ich nahm nahe dieser Holzbox Platz. Kurz nach Beginn der Messe erschien noch eine junge Mutter mit der etwa dreijährigen Tochter samt rosaroter Babypuppe am Ort des Betens. Das Mädchen steuerte auf die Bücherbox zu, sah, daß die Stühle daneben besetzt waren und warf mir einen schmollenden Blick zu. Dann folgte es der Mutter, die etwas weiter weg noch freie Sitzplätze fand.

Keine fünf Minuten währte es, und das Kind rutschte vom Stuhl, rannte mit klatschenden Sandalen unbekümmert zu besagter Bücherbox und wühlte umständlich darin. Schließlich zog es ein Bilderbuch heraus und hopste mit Gepoltere zur Mutter zurück. Ungeduldige Finger überschlugen hektisch die Seiten, schon hatte das Buch seinen Reiz verloren. Es bedurfte der Abwechslung. Wiederum klatschende Schritte, umständliches Wühlen und Auswählen, akustisch untermalte Rückkehr zum eigenen Platz. Auch das zweite Buch war in Rekordzeit durchgeschaut. Allein der Puppe war Muße zum Beten zugestanden, sie lag unbeachtet unter dem Stuhl. Das Mädchen indes fand Gefallen am Bücherholen. Der Weg als Ziel: Hauptzweck der Übung war das Ausleben des natürlichen Bewegungsbedürfnisses, verbunden mit dem Reiz, das einzige Lebewesen zu sein, dem an diesem Ort zu dieser Zeit gestattet schien, ungehindert zu lärmen.

Unangemessene Verzweiflung
Die Messe nahm ihren Fortgang, in der Buchbox warteten noch zahlreiche »ungelesene« Bücher. Mir schien es notwendig, etwas zu unternehmen. Der Pfarrer kam gerade zum andächtigsten Teil des Gottesdienstes, als das Mädchen zum wiederholten Male neben mir stand, um das nächste Buch aus dem Haufen herauszuziehen. Ich nahm ich das Kind beiseite, schaute es mit liebevoller Strenge an und legte in eindeutiger Geste den Finger auf meinen Mund. Das Mädchen sträubte sich nicht, es schien bloß überrascht. Während es mich groß anschaute, flüsterte ich beschwörend: »Du kannst doch auch ganz, ganz leise schleichen, nicht wahr?«
Und nun tippelte das Kind tatsächlich leise zurück, wie es sich während einer Meßfeier in der Kirche gehört. Ich freute mich und bereitete mich auf ein Augenzwinkern vor, das ich ihm als Lob hinüberschicken wollte. Dazu kam es dann leider nicht, denn das Kind warf sich der Mutter in den Schoß und verschloß sich jeder Kontaktaufnahme. Die junge Frau erhob sich unmittelbar, die Tochter auf dem einen, die Puppe unter dem anderen Arm, und strebte dem Ausgang zu. Als sie an mir vorüberkamen, hob das Kind kurz seinen Kopf, um mich anzuschauen. Nie werde ich diesen Gesichtsausdruck vergessen: eine Mischung aus höchster Pein, tiefster Verzweiflung und schierer Angst sprach aus diesem jungen Antlitz. Der Mund war schmerzverzerrt, aus den Augen sprangen Tränen. Der mit Mühe unterdrückte Orkan der Gefühle würde ganz gewiß draußen vor der Kirche mit aller Gewalt losbrechen.

Die Stellung des Erwachsenen dem Kinde gegenüber
Welches ungeheuerliche Unrecht ist diesem Kinde geschehen? Gewiß, es ist demütigend und irritierend, von einem fremden Menschen zurechtgewiesen zu werden. Das ist das eine. Ebenso gewiß aber ist auch dies: Vater und Mutter haben es übernommen, ihre heranwachsenden Kinder lebenstüchtig zu machen, indem sie zunächst stellvertretend die Gesetze des Lebens repräsentieren. Im allgemeinen Sprachgebrauch nennt man das Erziehung. Alle Erziehung zielt darauf ab, Kinder für das selbstverantwortliche Leben im gesellschaftlichen Dasein zu ertüchtigen. Für die Zeit der kindlichen Unmündigkeit sind Eltern die Stellvertreter der Schöpfung selbst: sie weisen die Grenzen und nehmen gelassen die Ungemach auf sich, gelegentlich selbst als »Grenze« dienen zu müssen.
So will es das Naturgesetz, das zugleich Basis ist für alle Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Einhaltung gewisser Regeln ist nicht nur Verzicht. Vielmehr schenkt sie uns allen Sicherheit, denn das Verhalten unserer Mitmenschen wird berechenbar.
Regeln kann jedes Kind leicht und auf spielerische Weise lernen, wo Eltern sich ihrer Stellvertretertätigkeit der übergeordneten Gesetze nicht verweigern. Das mag weitaus öfter unbequem als unterhaltsam sein. Wo allzu große Nachlässigkeit herrscht, wo die Bürde der Erziehung auf die Öffentlichkeit abgewälzt wird, schadet das nicht nur der Allgemeinheit. Den größten Nachteil erleidet das Kind. Im überschaubaren und liebevoll abfedernden Rahmen der Familie kann es ohne große Not dasjenige lernen, was ihm später das pralle Leben in aller Unnachgiebigkeit und Härte abfordern wird.

Jene Mutter, die während der Sonntagsmesse dem kindlichen Bedürfnis nach Bewegung und Lärm am unrechten Ort zur unrechten Zeit keine Grenzen setzte, scheint die Erziehungsarbeit dem Zufall zu überlassen. Dieser kann in vielerlei Gestalt erscheinen. Es wird dann jedoch keine Mutter da sein, die in vermeintlicher Fürsorglichkeit abschirmt und fortführt von jenem Ort der Demütigung. Wie mag dieses besagte Kind die ungleich schwierigeren Prüfungen bestehen, die ihm einmal das Zusammenleben mit anderen Menschen bescheren wird?

Karin Pfeiffer

 



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