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Vom Schreiben und Lesen

 
23. November 2010
Vom Schreiben und Lesen
Kategorie: Schule

Lesen in der Antike - schwieriger als heute

Bei den alten Römern war das Lesen eine schwierige Aufgabe, denn das Lateinische wurde wie das Griechische fortlaufend geschrieben, in der scriptio continua, ohne Worttrennung und Zeichensetzung. Man hatte eine „Text- und Buchstabenwüste“ vor sich. Der Leser mußte sich damit vertraut machen und eine Struktur „hineindenken“, die von vornherein nicht da war. Ein rasches Querlesen war nicht möglich, das Lesetempo selbst für geübte Leser gedrosselt. Wie mühsam es für Kinder war, das Lesen überhaupt erst zu erlernen, können wir uns lebhaft vorstellen. Um etwas vorzulesen, mußte man sich sorgfältig vorbereiten, sonst geriet man hoffnungslos ins Stottern. Das Lesenlernen begann mit dem Üben des Alphabets, das vorwärts und rückwärts aufgesagt werden mußte.

Es wurde laut gelesen; auch daheim oder unterwegs las man labial, das heißt, man bewegte dabei die Lippen. Die Schüler erleichterten sich das Lesen, indem sie die Worttrennungen in ihre Lesetexte selbst eintrugen und die Satzteile durch Punkte abteilten. Erst im Buchdruck wurde diese „Bequemlichkeit“ – gemeint sind Wortzwischenräume und Satzzeichen – allgemein schon vom Hersteller der Schrift vorbereitet: Das heißt, der Schreibende richtete sich nach dem Lesenden, er erfüllte endlich eine Bringschuld, die dem leichteren Lesen dienten. Die Rücksichtnahme des Schreibenden auf die „Bequemlichkeit“ des Lesenden erst ermöglichte die Entwicklung der hohen Schriftkultur, die wir heute (noch) haben.

Bis zum Jahr 1996 war das Bemühen um leichte Lesbarkeit eine nicht angezweifelte Selbstverständlichkeit. Satzzeichen und Buchstabenformen sollten mit Bedacht gesetzt werden, damit die Schrift leicht lesbar ist. Das setzte beim Schreibenden ein gewisses Verantwortungsgefühl voraus sowie die Bereitschaft, sich den allgemeingültigen Gepflogenheiten anzupassen. Alle Entwicklung der Buchstabenschrift diente nur diesem einzigen Zweck: der guten Lesbarkeit. Die klassische Orthographie, wie sie bis zur „Reform“ allgemein akzeptiert war, erlaubte ein rasches Querlesen durch optisch eindeutige Buchstabenfolgen und –formen.

Der Versuch, die Rechtschreibung durch Einebnung vermeintlicher „Spitzfindigkeiten“ zu erleichtern, endete mit dem vorhersehbaren Ergebnis der erschwerten Lesbarkeit. Man fühlt sich unwillkürlich an die Antike erinnert, als römische Schüler mühsam Silben und Wörter auseinanderhalten mußten, ehe der Wortschlange überhaupt ein Sinn abgerungen werden konnte. Wem kommt angesichts solcher Überlegungen nicht der bedrückende Gedanke eines vollzogenen Rückschritts? Ein Tor, wer glaubt, die Menschheit bewege sich nur vorwärts. Die sogenannte Rechtschreibreform wirft ein Schlaglicht auf die Tatsache, daß oft genug auch das Gegenteil zutrifft.

Karin Pfeiffer

 

 




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