www.stolzverlag.de

Englischunterricht im Grundkurs

 
23. November 2014
Englischunterricht im Grundkurs
Kategorie: Anekdoten
Der Prüfling

(30.10.1979)

An unserer Schule ist der Englischkurs geteilt. Der sogenannte Grundkurs setzt sich zusammen aus den schwächsten Schülern aller Parallelklassen. Dort haben die Schüler buchstäblich keinen „Grund“ unter den Füßen.

Grundkurs 9. Klasse, Unterrichtsbeginn. Ich ersuche um Ruhe und weiß doch zugleich: genausogut hätte ich einen Wasserfall bitten können, mit dem Rauschen aufzuhören. Als der Lärmpegel einigermaßen gesunken ist, fange ich mit dem Unterricht an. Zwei Schüler heben mit den Knien den Tisch auf und schaukeln das Möbelstück in vorbildlicher Zusammenarbeit. Ich werde böse und drohe Strafen an. In den Gesichtern unterdrücktes Grinsen. Es wird wieder laut.

Schreiben schafft in der Regel eine ruhige Atmosphäre, also bekommen vier der größten Störenfriede eine Sonderaufgabe. Sie geben sich tatsächlich ans Arbeiten, und es wird so ruhig, daß ich mit dem regulären Unterrichtsprogramm fortfahren kann. Die Stunden beginnen bei mir mit der obligatorischen Vokabelprüfung. Ohne Vokabeln kein Englisch. Das sollte jedem Ochsen einleuchten. Aber meine Schüler sind ja keine Ochsen.

Ich rufe einen Namen auf. Das Mädchen weigert sich. „Ich habe gestern gefehlt.“

Das akzeptiere ich nicht als Entschuldigung und sage, ich würde nur alte Vokabeln abfragen. Sie weigert sich weiterhin, das ist eine glatte Sechs. Ich rufe einen anderen Schüler auf, diesmal einen Jungen. „Ich?“ fragt er, als hießen alle in der Klasse Uwe. Die Ich-Frage gehört zum Standardrepertoire der Schülerreaktionen, die von einem professionellen Lehrer einfach überhört wird.

Umständlich steht Uwe auf, um nach vorn zu kommen.

„Mit Vokabelheft“, muß ich sagen. Es ist ein immergleiches Ritual.

„Mit Vokabelheft?“ fragt Uwe ungläubig.

„Mit Vokabelheft“, wiederhole ich. Es hängt mir zum Halse heraus. „Und mach voran.“

Eine Ewigkeit vergeht, bis er vor mir steht und mir das Heft vorlegt. Ehe ich danach greifen kann, hat er es wieder an sich genommen: „Moment mal. Ich muß erst die richtige Stelle suchen.“

Umständlich beginnt er zu blättern. Lachen und Feixen in der Klasse, sie genießen den Auftritt. Ich bin drauf und dran, Uwe wieder an seinen Platz zu schicken, da streckt er mit das aufgeblätterte Heftchen hin: „Hier!“ Dann stellt er sich direkt hinter meinem Stuhl in Position. Das kann ich mir nicht bieten lassen und weise ihn an, sich vor mich zu stellen und den üblichen Abstand zu halten. Darauf geht er bis zur ersten Bankreihe und setzt sich dort auf einen leeren Stuhl.

„Aufstehen“, sage ich.

Der Prüfling steht auf und lümmelt sich gegen den Tisch. Ich tue so, als sähe ich das nicht und beginne mit dem abfragen.

„Männlich?“

Grinsen in der Klasse.

„Männlich?“ echot Uwe.

„Auf englisch“, höre ich mich sagen, völlig überflüssigerweise. In den Zuschauerreihen brodelt es vor Vergnügen.

„Männlich, männlich“, murmelt Uwe und betrachtet interessiert seine eigenen Schuhspitzen, die, wie ich sehe, ziemlich schmutzig sind. Jetzt schnellen einige Finger in die Höhe. Die meisten gehören den Mädchen.

„Male?“ sagt eine, es klingt wie eine Frage.

„Richtig, male“, sage ich. Und dann wieder zu meinem Prüfling gewendet, der steht, wie eine kaputte griechische Säule, schräg an den Tisch gelehnt.

„Ausbildung.“

„Ausbildung?“

„Stornieren.“

„Stornieren?“

So geht es weiter. Er kann nichts. Keine einzige Vokabel.

„Fünf.“

„Five!“ ruft er und strahlt.

„Setzen, fünf!“

„Was?“ fragt er. „Fünf?“

Wie ein begossener Pudel steht er plötzlich da, ganz ohne sich anzulehnen. „Aber wieso denn?“

„Setz dich“, sage ich.

Er protestiert: „Das ist ungerecht. Ich konnte ja nicht mal nachdenken.“

„Wir machen bei Lektion 6 weiter, Seite 38.“ 

Meine Schüler holen die Bücher heraus und blättern. Der unglückliche Prüfling steht noch immer vor mir. Erst nach einer weiteren Aufforderung geht er zurück an seinen Platz, kopfschüttelnd. Die Sitznachbarn empfangen ihn mit unverhohlener Schadenfreude. Spottend klopfen sie ihm auf die Schultern. Bis sie selbst dran sind. Dann läuft es umgekehrt. Inzwischen ist die Hälfte der Unterrichtsstunde rum, zumindest das haben sie erreicht, und sie erreichen es in jeder Stunde.

Karin Pfeiffer

 
 

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von nachdenklicher (23. November 2014, 20:52):
Frau Pfeiffer,

was, bitte schön, wollen Sie uns mit diesem Einblick in eine Ihrer Englischstunden aus dem Jahr 1979 mitteilen?
Das ist eine ernst gemeinte Anfrage.
 
von Y.Z. (25. November 2014, 17:05):
@nachdenklicher
Komisch, bei Ihren zahllosen Kommentaren zur Anekdote vom 12. September 2014 habe ich mich auch wiederholt gefragt, was Sie da eigentlich im Zusammenhang mit dem Erlebnis von Thormut Schreiber, das eindeutig humorig gemeint war, mitteilen wollen.
So kann's halt gehen.
Der "Englischunterricht im Grundkurs" sagt mir dagegen etwas.


 
von nachdenklicher (26. November 2014, 01:02):
@Y.Z.
Ich glaube schon recht gut verdeutlicht zu haben, was ich im Zusammenhang mit dem Erlebnis von H. Schreiber mitteilen wollte.

Es kann aber sein, dass wir unter "Humor" Verschiedenes verstehen.

Wenn ich nun Frau Pfeiffer höflich frage, was Sie uns mit der geschilderten Englischstunde mitteilen möchte, ist das tatsächlich eine ernst gemeinte Anfrage. Ich verstehe tatsächlich nicht, worin der tiefere Sinn besteht, uns hier eine Englischstunde von 1979 zu schildern.

Ich gehöre auch der Generation der Verfasserin an. Sowohl als Schüler als auch später als Lehrer erlebte ich nichts von dem, was in der Stunde beschrieben wird.

Ganz im Gegenteil, die meisten Schüler lernten Ende der 70er Jahre gerne, und die beschriebene Disziplinlosigkeit und der fehlende Respekt gegenüber einer Lehrerperson war mir zum damaligen Zeitpunkt vollkommen fremd.

Y.Z., wenn Ihnen der "Englischunterricht im Grundkurs" etwas sagt, würde ich mich ehrlich freuen, wenn Sie mir Ihre Gedanken mitteilten.

 
von nachdenklicher (04. Dezember 2014, 16:49):
Mit Bedauern nehme ich zur Kenntnis, dass mir wohl niemand meine Frage beantworten möchte.

Es kann ja sein, dass ich für "blöd" gehalten werde oder meine Bitte so etwas wie eine "Zumutung" darstellt.

Nun, die Welt geht deshalb für mich nicht unter, aber ich frage mich schon, ob die Beiträge im Tagebuch lediglich zur Kenntnis genommen werden sollen oder auch zum kontroversen Kommentieren einladen.



 



Alle Informationen ohne Gewähr
http://www.stolzverlag.de/de_blog_permalink_559.html