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Frühförderung in Vorschule und Kindergarten

 
06. Februar 2009
Frühförderung in Vorschule und Kindergarten
Kategorie: Erziehung
Frühförderung in Vorschule und Kindergarten

Dieser Tage erreichte uns ein Brief aus Neuseeland. Das eigentliche Anliegen des Schreibens verblaßte angesichts der zwischen den Zeilen verborgenen Botschaft: im englischsprachigen Raum werden seit geraumer Zeit bereits Zweijährige in Krabbelstuben intellektuell beschult. Dies ist eine alarmierende Entwicklung. Auch bei uns wird die Forderung nach Frühbeschulung immer lauter. Sogenannte Experten aus dem Dunstkreis der Politik (deren verborgene Motivation einmal eine spezielle Durchleuchtung verdiente) reden dem Volk ein, Kleinkindern müsse so früh wie irgend möglich eine systematische Vermittlung abstrakten Denkens zuteil werden — natürlich in staatlichen Einrichtungen.

Abstraktes Lernen von Anfang an?
Kinder lernen vom Tag ihrer Geburt an, sie lernen intuitiv und ohne pädagogische Einmischung Erwachsener. Sie lernen handelnd und fühlend in der direkten Auseinandersetzung mit der Welt. In den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind auf spielerische Weise den Fundus handfester Erfahrungen, auf den später alle Theorie aufbauen kann. Die Reihenfolge von der Praxis zur Theorie ist unumkehrbar!
Der Kern jeder Intelligenz und Tüchtigkeit wird zu Beginn des Lebens gelegt. Insofern ist der Wunsch, Kinder mögen zum frühestmöglichen Zeitpunkt gefördert werden, verständlich. Doch kann sich der (abgekürzte) Weg, den man dazu einschlägt, nicht bewähren. Schon die Jüngsten sollen sich mit abstrakten Formeln des Wissens befassen, sie sollen über Denken und Sprache lernen, die Welt zu be-greifen! Dies ist überhaupt nicht möglich.
Seit Ende des 2. Weltkrieges ist an den Schulen eine denkwürdige Entwicklung zu beobachten: die Akzeleration der Lernstoffe. Themen, die aufgrund hohen Abstraktionsgrades vormals den höheren Schulstufen vorbehalten waren, sind heute in den Stundenplänen der Grundschulen fest verankert. Zu einer Zeit, da Kinder noch gar nicht in der Lage sind, diese Abstraktionen zu verstehen, müssen sie Lernstoff in Form theoretischer Formeln nachplappern. Denn mehr als verbales Geplänkel kann bei solcher Art „Lernen" nicht herauskommen.

Wieder aktuell: der Nürnberger Trichter
Wir möchten unsere Kinder intelligent »machen«. Von dieser pädagogischen Anmaßung einmal ganz abgesehen, bleibt außer acht, daß der Mensch nicht nur aus einem Gehirn besteht, sondern daß alles Denken unlösbar verknüpft ist mit körperlichen und sozialen Erfahrungen. Mutwillige Förderung des einen bei Vernachlässigung des anderen bringt gewiß irgendwelche Ergebnisse — niemals aber die gewünschten. Künstliche Züchtung führt nicht zu mehr Klugheit und Lebenstüchtigkeit; sie erzeugt stattdessen pseudointelligent daherschwätzende Marionetten. Noch niemals hat der Mensch der Natur folgenlos ins Handwerk gepfuscht. Dies sollten sich jene gesagt sein lassen, die unter Laborbedingungen gewisse Intelligenzförderungsprogramme an Zwei- bis Dreijährigen erproben. Dies sollte bedenken, wer »akademisch« ausgerichtete Kindergarteneinrichtungen fordert und zum Besuch jener geistigen Kaderschmieden im Rahmen einer staatlich verordneten Vorschulpflicht zwingen wollen.

Blutleere Geistigkeit
Die Beschäftigung mit der Geschichte kann zu wichtigen Erkenntnissen führen. Schon im niedergehenden Reich der Römer kritisierten kluge Zeitgenossen den hektischen Bildungswahn. »Die Römer rühmten sich erstaunlicherweise, ein hartes Intelligenztraining schon für kleine Kinder eingeführt zu haben. Ähnliche Versuche, wie sie heute durch den Frühlese- und Vorschulunterricht am ungeeigneten Objekt propagiert und praktiziert werden, haben damals mit einem nachdenkenswerten Fiasko geendet. Die Opfer solcher pädagogischen Eskapaden entwickelten, wie zu erwarten, durch ihre zu frühe und einseitige intellektuelle Bildung eine blutleere Geistigkeit, oder sie reagierten auf diese Dressuren mit einer Daueraversion gegenüber jedem geistigen Engagement, nachdem sie Ehrgeiz und Unvernunft der Erwachsenen mit tiefgreifenden psychischen und physischen Schäden bezahlt hatten.« (1)

Von keiner Schüchternheit gehemmt
Quintilian (um 35 - 96, staatlich angestellter Rhetor Roms) erkannte, daß eine überstürzte Intellektualisierung die schöpferischen Kräfte im Kinde verschütte. Er beschreibt Wesen und Verhalten des frühgeförderten Kind mit Worten, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen: »Jene frühreifen Begabungen kommen nicht leicht zu einer brauchbaren Vollendung. Sie bewältigen Unbedeutendes leicht, und, durch Keckheit gefördert, zeigen sie sogleich, was sie können. Sie können aber eben nur das, was gerade durchgenommen worden ist. Sie reihen die Wörter aneinander, und mit unerschrockener Miene tragen sie das Wenige, von keiner Schüchternheit gehemmt, vor, dieses aber schnell. Wirkliches Können steckt nicht dahinter, und nichts stützt sich auf Wurzeln, die in die Tiefe reichen. Das gefällt im Vergleich zu den Jahren; dann aber stockt der Fortschritt, und die Bewunderung schwindet dahin.« (2) Wovon sich die Erwachsenen blenden lassen, sind Worte, nichts als Worte! Sind wir wirklich so einfältig?

Verlaß dich nicht auf andere ...
Mach deine eigenen Fehler! Sollte die Menschheit denn dazu verdammt sein, die folgenreichen Fehler der früheren Generationen und Gesellschaften zu wiederholen, um ihr Scheitern am eigenen Leibe zu erfahren? Nun bilde sich keiner von uns ein, er allein sei in der Lage, das Ruder herumzuwerfen! Die Dinge gehen ihren Gang, ob wir es wollen, oder nicht. Doch eines kann jeder einzelne von uns tun, sofern er Kinder hat: Er schütze diese so gut wie möglich vor der einseitigen Intellektualisierung; er gewähre ihnen Freiraum und Zeit zur individuellen Entwicklung, die nicht nur Lippenbekenntnis der wohlmeinenden Schlagwortpädagogik ist; er lasse sie spielen, damit sie im Gleichgewicht mit der Natur ihre eigenen (nicht pädagogisch gelenkten) Körpererfahrungen machen können. Das Tempo der kindlichen Entwicklung ist nun einmal von der Natur vorgegeben, und niemand kann das beeinflussen. Wie rasch der Geist eines Kindes reift, ist allein in diesem selbst angelegt und nicht durch Programme der Intellektualisierung zu beeinflussen.

Achtung vor dem Kinde
Die moderne Pädagogik fordert immer wieder nachdrücklich »Achtung« vor dem Kinde. Das aber ist gerade das Gegenteil dessen, was uns antreibt, schon die Jüngsten schematisch zu formen. Wer ehrliche Achtung vor dem Kinde empfindet, wird es nicht intellektuell zurechtbiegen wollen. Er wird ihm neben all der behutsamen geleisteten Hilfestellung vor allem das Recht zugestehen, die Welt nach seinem eigenen Rhythmus des Reifens entdecken zu dürfen und ihm so ein der menschlichen Natur angemessenes Entwicklungstempo zugestehen.

Karin Pfeiffer


(1) Gustav Sichelschmidt: Wie im alten Rom. Dekadenzerscheinungen damals und heute. Arndt Verlag, Kiel, 1971, Seite 173
(2) ebd. Seite 174
 



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