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Newsletter Nr. 28 – Januar 2009

 
25. Januar 2009
Newsletter Nr. 28 – Januar 2009
Kategorie: Newslettertexte
Das Netz des Fischers 
 

Was ich nicht fangen kann, ist kein Fisch!
Ein Mann sitzt am Ufer und wirft ein Netz aus. Er fängt Fische. Ein Wanderer kommt vorbei und fragt: »Was tust du da?«
Der Gefragte antwortet: »Ich fange Fische.«
»Was kannst du über Fische aussagen?«
»Ich habe zwei Erkenntnisse gewonnen. Erstens, alle Fische haben Kiemen. Zweitens, alle Fische haben einen Umfang von mindestens 5 cm.«
Der Wanderer betrachtet das Netz. Dabei stellt er fest, daß die Knüpfung des Netzes eine Maschenweite von just 5 cm Umfang aufweist. Der Wanderer ist ein kluger Mann. Er sagt zu dem Fischer: »Nehmen wir an, es gäbe Fische, deren Umfang geringer ist als 5 cm. Ich bin ziemlich sicher, solch kleine Fische in diesem Gewässer gesehen zu haben. Die könntest du gar nicht fangen, denn dein Netz könnte sie nicht festhalten.«
Darauf brummt der Fischer mit grimmigem Selbstbewußtsein: »Was ich nicht fangen kann, ist kein Fisch.«
(nach einer Parabel des Astrophysikers Sir Arthur Eddington)

Das Leben ist unerklärbar
Was ich nicht sehe, gibt es nicht. Was ich nicht verstehe, ist Unsinn. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß ... Wie vertraut sind jedem von uns solche Denkweisen! Wir neigen dazu, unsere private Sicht der Dinge, unser eigenes begrenztes Auffassungsvermögen als Richtschnur für das gesamte Dasein zu nehmen. Das ist an sich nichts Böses, denn wir werden die Welt mit unseren persönlichen Schrullen nicht ändern. Sobald aber Fachleute und Wissenschaftler auf diese selbstherrliche Weise verfahren, hat das unter Umständen unerfreuliche Folgen für die ganze Gesellschaft.
Was ich nicht fangen kann, sind keine Fische! Damit werden Lebens- und Erscheinungsformen jenseits des verstandesgemäßen Begreifens als nichtexistent aus dem gesellschaftlichen Denken und Handeln verbannt. Wir widmen uns der sichtbaren Welt und vergessen die Unsichtbare. Wir berufen uns auf Einsicht und Verstand und vergessen die Gefühle. Wir tun nur das, was als »wissenschaftlich« belegt scheint, und wir tun es oft gegen bessere Einsicht, gegen die Lebenserfahrung. Wir verzichten freiwillig auf einen Zugang zu Problemlösungen, der zwar nicht wissenschaftlich erklärt werden kann, dafür aber in anderer Weise Wirksamkeit zeigt. Wir können das Leben eben nicht mit Fischernetzen einfangen, und seien die Maschen noch so eng geknüpft.

Was kommt zuerst: Handeln oder Theorie?
Wir können nicht alles verstehen, was wir tun. Ist es wirklich sinnvoll, im Schulunterricht zuerst umständlich und ausführlich Theorien zu vermitteln, ehe zum praktischen Handeln übergegangen wird? Könnte es nicht sein, daß Kinder das Lesen, Schreiben und Rechnen müheloser erlernten, wenn wir sie nicht vor den ersten Praxisstunden mit hundert Kilo Theorie langweilen und niederdrücken würden? Das heißt, den zweiten vor dem ersten Schritt tun. Mit seinem Verstande begreifen kann der Mensch allenfalls das, was er zuvor in der Praxis getan oder erlebt hat. Umgekehrt geht es nicht. Eine Senftube muß gefüllt sein, ehe wir sie ausquetschen können. Zuerst müssen die Kinder lesen, schreiben und rechnen, ehe wir sie über theoretische Grundlagen aufklären.

Fische mit der Hand fangen
Als Kinder gingen wir auf die Jagd nach dem Kaulkopf (auch Koppe, Groppe oder Rotzkopf genannt), einem Fisch, der sich in klaren Fließgewässern gern unter mittelgroßen Steinen versteckt, und den mit bloßer Hand erwischte, wer flink und mit einigem Geschick zu handeln wußte. Die Koppen sind ungenießbar, deshalb ließen wir sie unbehelligt wieder frei. Wir trainierten bei diesem Tun Ausdauer, Aufmerksamkeit, Geschick und Schnelligkeit. Niemand kam auf die Idee, unseren kindlichen »Un-Verstand« vor dem sportlichen Spiel mit allem möglichen hochgelehrten Geschwätz über die beste Fischfangtheorie zu belasten, damit wir »verstünden«, was wir da taten. Erfolg und Freude stellten sich von allein ein: beim explorativen und übenden Handeln.
Um handeln zu können, müssen wir eines tun: handeln! Wo dieser Grundsatz in der Schule unbeachtet bleibt, wird die gern beschworene Handlungsfähigkeit erstickt. Kinder sollen mit ihren Händen nach Fischen haschen dürfen! Und wenn sie danebengreifen, sollen sie es so lange probieren dürfen, bis es klappt. Man darf ihre Hände nicht packen und führen, ganz so, als seien sie behindert. Diese Überfürsorglichkeit wird sie nur störrisch machen, bequem und mutlos. Kinder möchten nicht ständig Erklärungen für etwas bekommen, wonach sie nicht aus eigenem Antrieb fragen. Sie möchten agieren.

Zuviel theoretisches Geschwätz
Unsere moderne Schule ist geprägt durch aufdringliches Geschwätz, wo statt dessen Nachdenklichkeit am Platz wäre. Sie profiliert sich mit einem unstillbaren Erklärungs- und Regelungswahn, wo allein zielstrebiges und unproblematisiertes Nachahmen, Üben, Tun und Machen nötig wäre. Wo ist die Lehrperson, die am ersten Schultag zur Tür hereinkommt und mit fröhlichem Elan sofort eine Reihe des kleinen »i« schreiben läßt? Die Kinder brennen darauf, etwas zu tun — etwas Sinnvolles zu leisten, sich zu beweisen — und sie brennen darauf, Eigenverantwortung zu übernehmen. Die Struktur der Schule, die Methodik des durch und durch verwissenschaftlichten Unterrichts verhindert dies. Was ich nicht fangen kann, ist kein Fisch! Mit überlieferten Erfahrungswerten und Traditionen, denen die wissenschaftliche Dimension fehlt — die also durch das Netz des Fischers hindurchschlüpfen — hat diese fortschrittliche Pädagogik keine Geduld. Ohne Zaudern und ohne Bedauern hat sie diese »altmodischen« Methoden längst aus ihrem Repertoire entfernt. Darunter leiden sie alle zusammen: Schüler, Lehrer, Eltern. Aber niemand will wirklich wissen, warum.

Karin Pfeiffer

 

 

Unser Leben wäre arm, würden wir nur das tun, was wir mit dem Verstand erfassen können.


 

 
Foto: pixelio

Was durch die Maschen schlüpft,
kann nicht gezählt werden.


 

 
Foto: pixelio

Rote Fische schlüpfen durch die Maschen. Deshalb gibt es rote Fische nicht.


 

 
Foto: pixelio

Wissenschaft möge sich ihrer Grenzen besinnen! Mit Netz und Angel werden wir nie die Geheimnisse des Meeres lüften.


 

 

 
Foto: pixelio

 Kinder sollen mit ihren Händen nach Fischen haschen dürfen!


     
 
 



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