Als ich meine ersten Berichtszeugnisse schrieb, bereitete mir das erhebliches Kopfzerbrechen. Bei einigen Kindern fiel es mir leicht, passende Sätze zu formulieren, bei anderen wieder wollte mir gar nichts einfallen. In mir keimte Unwillen. Ich fragte mich, ob ich denn eine schlechte Lehrerin sei, weil ich mich nicht in der Lage sah, jedem Kind spontan einige passende Sätze ins Zeugnis zu schreiben. Ich fragte mich, wie es wohl meinen Kolleginnen und Kollegen ginge. Floss es denen aus der Feder? Oder schlugen sie sich mit denselben Problemen herum? Zweifel nagten, ob ich es denn richtig machte: durfte ich schreiben, dass Angelika durch ihre Kaspereien den Unterricht oft störte? Und wenn, welchen Nutzen, welche Änderung brachte es? Und wie formuliert man kluge Bemerkungen für ein Kind, das einem so gar nicht aufgefallen ist und zu dem man eigentlich gar nichts sagen kann, als dass es leistungsmäßig im Klassendurchschnitt liegt? Wohl wissend, dass die Kinder selbst wahrscheinlich wenig von den Formulierungen verstehen und die Eltern beim Gespräch nachbohren würden, wie sie denn nun diesen oder jenen Satz zu verstehen hätten, quälte mich beim Schreiben eine Art Gefühl der Vergeblichkeit. Ich begann, ziemlich frei zu formulieren und schrieb, wie mir mein Gefühl dies diktierte. Wer hat sich das mit dem Berichtszeugnissen ausgedacht? Kann eine Lehrerin, kann ein Lehrer, wirklich den individuellen Lernstand und die individuelle Lernentwicklung jedes einzelnen Schulkindes exakt und gerecht nachvollziehen? Ich meine, dass wir den Gedanken zulassen sollten, möglicherweise einem Irrtum aufzusitzen: nämlich dem, dass durch katalogisierte und systematische Formulierungen mehr Bewertungsgenauigkeit oder Gerechtigkeit erzielt werden könnte! Überschätzen wir da nicht unsere eigenen Fähigkeiten? Mal ehrlich: welche Mutter, welcher Vater, ist schon bei seinen eigenen Kindern immer so genau in der Lage zu sagen, was in ihnen vorgeht, welche Probleme sie durchmachen oder Entwicklungsstufen sie durchlaufen, überspringen oder verpassen? Und eine Lehrkraft, die bis zu 30 Kinder in der Schulklasse beurteilen soll, wie schafft sie das? Das Erstellen von Wortgutachten benötigt Zeit, viel Zeit. Diese Zeit geht dem direkten zwischenmenschlichen Kontakt verloren. Ein Phänomen unserer Zeit ist, dass wir uns heute lieber mit Maschinen und Tabellen befassen als mit unseren Mitmenschen. Auch an Schulen wird zu viel Zeit damit verbracht, in Konferenzen über Erziehung zu reden, Organisatorisches zu planen, an Schreibtischen Statistiken zu erstellen ... Derweil lassen wir sie allein, unsere Kinder, denen ein Wort und eine Geste von uns lieber wären als aufwendig erstellte Wortgutachten, die sie nicht verstehen und die wiederum selbst interpretierungsbedürftig sind. Inzwischen gibt es schablonenhafte „Wortübersetzungen“ parallel zu den Zensuren eins bis fünf. Im Grunde ist das paradox. Wir übersetzen eine Ziffernzensur in einen Satz, der dann im Gespräch wieder zurück übersetzt wird in eine Ziffernzensur. Ist das Sinn der Sache? Aus diesem Grunde möchte ich die Sie, die Lehrer ermutigen, beim Schreiben der Zeugnisse individuelle, persönliche Formulierungen zu wählen. Machen Sie es sich nicht zu schwer. Wenn Sie ein gutes Verhältnis zu Eltern und Kindern haben, können Sie gar nichts falsch machen. Bestehen allerdings Differenzen, wird man an allen Formulierungen, mögen sie so oder anders sein, etwas auszusetzen haben. Das ist wie in der Geschichte vom grünen Fahrrad, die Ursula Wölfel geschrieben hat: man kann es einfach nicht allen recht machen. Karin Pfeiffer |