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Erziehungsversuche in der Schule

 
18. November 2011
Erziehungsversuche in der Schule
Kategorie: Anekdoten

Radiergummi und Tintenkiller

Erste Elternversammlung zum Schulbeginn einer ersten Klasse. Die Lehrerin legt minutiös dar, welche pädagogischen Intentionen sie verfolgen wird. Beifälliges Nicken unter der Zuhörerschaft.
»Soll ich auch erzieherisch tätig werden?«
»Aber selbstverständlich!«
»Wir bitten darum!«
»Gerne! Wir unterstützen Sie, so gut es geht!«
Freude, ja Begeisterung malt sich in den Gesichtern ab.

Die ersten Schulwochen gehen ruhig ins Land. Anfängliche Schreibversuche und Lockerungsübungen werden auf einer kleinen Plastiktafel absolviert. Alle sind mit Eifer dabei, Fortschritte im Können machen Freude! Die kleinen Finger sind schon recht gelenkig.

Dann kommen die ersten Bewährungsproben. Für die Lehrerin.
»Kinder, ab morgen fangen wir an, mit dem Bleistift ins Heft zu schreiben!«
Die Kinder freuen sich wie toll. Die Lehrerin dämpft den Jubel etwas, denn sie will ja, eingedenk ihres Versprechens, erzieherisch tätig werden: »Der Radiergummi bleibt im Mäppchen, den brauchen wir nicht.«
Melanie wundert sich: »Warum brauchen wir den Radiergummi nicht?«
»Wenn man beim Schreibenlernen immer wieder radiert, lernt man es nicht so gut. Frage deine Mama. Ich habe das bei der Elternversammlung genau erklärt.«
Melanie nickt. Es gibt eine kleine Hausaufgabe. Mit Bleistift ins Heft zu schreiben.

Am nächsten Tag schaut die Lehrerin die Hefte an. Jasmin, Stefan, Gabi, Melanie – sie alle haben radiert. Bis zur Papierverdünnung.
»Aber ihr wisst doch ...«
Jasmin guckt unschuldig: »Meine Mama hat das gemacht.«
Stefan sagt: »Die Mama hat gesagt, ich soll den Fehler ausradieren.«
Gabi sagt: »Mutti hat es mir erlaubt.«
Melanie sagt: »Papa hat gesagt, ich soll radieren, wenn ich Fehler mache.«

Einige Wochen später dürfen die Kinder im Unterricht mit dem Füller schreiben. Wieder Jubel. Endlich gehört man zu den alten Schreibhasen. »Keinen Killer!« warnt die Lehrerin. Auf Erklärungen wie beim Radiergummi verzichtet sie schon.
Der erste Killer taucht bei Stefan auf. Danach folgen Melanie, Jasmin, Gabi, Stefan, Rika, Felix und die anderen. Die Lehrerin schreibt einen Brief, sauber vervielfältigt, mit liebevoller Unterschrift versehen. »Der Tintenkiller ... der Schreibfluss ... die Ästhetik ... und überhaupt: die Erziehung und so weiter.«

Am folgenden Tag steht Frau B. in der großen Pause vor dem Lehrerzimmer. Der Stefan, der Radiergummi, und schließlich tue das doch jeder. Radieren. Und so fort. Die Lehrerin erklärt und redet sich den Mund in Fransen. Sie fühlt sich unbehaglich, weiß aber nicht, weshalb.
Beim nächsten Diktat gibt es Killergeschmiere. Und in Stefans Heft ist ein Loch. Ein richtiges Loch zum Durchgucken. Einer der Buchstaben - wer kann schon wissen, welcher – ist radikal verschwunden. Die Lehrerin seufzt und tut, was sie erzieherisch für richtig hält.

Kommt eine empörte Frau B. am folgenden Tag, diesmal nach der vierten Unterrichtsstunde. »Das geht nun doch zu weit, dass Sie dem Stefan einen Fehler im Diktat berechnen!«
Die Lehrerin hat daraufhin nie mehr etwas gegen Radiergummis oder Tintenkiller unternommen. Und Löcher im Papier als Joker betrachtet. Leerstellen, in die mit einiger Phantasie so gut wie alles hineininterpretiert werden kann.

Christine Cremer

 
 

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von maren (18. November 2011, 21:26):
Nach dem ersten Absatz der herrlichen Geschichte musste ich schon schmunzeln, denn mir war klar, worauf das Ganze ungefähr hinauslaufen würde.
Es ist typisch, dass Eltern begeistert vom Prinzip sind, aber im konkreten Fall des eigenen Kindes nichts mehr davon wissen wollen.
Als die Lehrerin am Ende resignierend "Löcher im Papier als Joker betrachtet", war es mit dem Schmunzeln vorbei. Da musste ich einfach lauthals lachen.

 
von namenlos (19. November 2011, 12:43):
In meiner dritten Klasse gab es eine Zeit lang viele körperliche Auseinandersetzungen zwischen einigen Jungen, bei denen dann immer die anderen schuld waren. Dies kam auf einem Elternabend zur Sprache, weil eine Mutter sich über die ständigen Klagen und Blessuren ihres Sohnes beschwerte.
Gemeinsam wurde überlegt, wie man der Streitereien am besten Herr würde. Die Schuldfrage sollte dabei möglichst außen vor bleiben, weil jedes der Kinder sich gewöhnlich im Recht fühlte oder zumindest so tat. Nachträgliche Klärungsversuche raubten nur viel Zeit und verliefen ergebnislos im Sande.
Wir beschlossen einmütig, dass die Streithähne gemeinsam bestraft werden sollten getreu dem Motto: einer allein streitet nicht. Außerdem konnte ja jeder einer Prügelei aus dem Weg gehen. In diesem Sinne wollten die Eltern ihre Kinder auch zu Hause impfen und ihnen raten, körperliche Auseinandersetzungen zu meiden. „Der Klügere gibt nach“ sollte zur Devise werden.
Schon nach wenigen Tagen suchte mich jene Mutter in der Schule auf, die sich über die Blessuren ihres Sohnes beschwert hatte. Recht wütend kam sie gleich zur Sache: „Tim ist auf dem Heimweg wieder verprügelt worden. So geht das nicht weiter.“ Als ich ihr zu verstehen gab, dass gerade ihr Sohn mir immer wieder aufgefallen war durch aggressives Verhalten, wurde sie noch aufgeregter. „Was soll er denn machen? Er muss sich doch noch verteidigen dürfen. Ich kenne meinen Sohn und weiß, dass er beileibe kein Engel ist. Aber….“
 
von U. P. (20. November 2011, 10:55):
"Mein Kind muß sich doch wehren dürfen" klingt mir nur allzu bekannt in den Ohren. Und oft sind es tatsächlich die Mütter streitlustiger Knaben, die meinen, ihr Kind werde ständig nur angegriffen.
Dummerweise scheinen diese Kinder das selbst so zu empfinden, obwohl sie es sind, die beim kleinsten Anlaß "explodieren" und anderen "an die Kehle gehen". Die Eltern wissen sich dann oft nicht mehr anders zu helfen als ihrem Kind immer wieder zu sagen: "wehr dich doch!" Das heizt die Sache zusätzlich an.
Jedenfalls habe ich den Teufelskreis manchmal so beobachtet und frage mich jetzt, liebe(r) namenlos, wie Ihr Erlebnis mit dieser Mutter ausgeht. Könnten Sie darüber noch etwas schreiben?

 
von H. Krömer (20. November 2011, 19:49):
Frau Cremers Geschichte bringt mich zu der Frage, ob die Kinder überhaupt nicht Fehler verbessern durften oder nur nicht mit Radiergummi und Tintenkiller.
Ich bin auch kein Freund dieser Hilfsmittel, vor allem nicht von Tintenkillern, weil sie zum oberflächlichen, zu schnellen Arbeiten verführen. Man kann ja hinterher Fehler verschwinden lassen, auch wenn unsaubere Spuren zurückbleiben. Das stört die Kinder komischerweise kaum.
Die Möglichkeit zur Verbesserung muss meiner Meinung nach aber gegeben sein, weil einem trotz Mühe Fehler unterlaufen können. Meinen Schülern bringe ich darum immer wieder bei, wie man sauber (dünn!) durchstreicht und das Richtige darüber schreibt. Eine solche Art der Verbesserung stört die meisten Kinder, weil ihre Fehler sichtbar bleiben, auch wenn sie nicht mehr zählen. Das hat den Effekt, dass sie sich mehr anstrengen, um gar nicht erst Fehler zu machen.
 
von Konrad (21. November 2011, 07:34):
Durchstreichen ist eine gute Methode - wenn nicht radiert oder "gekillt" werden soll, bleibt ohnehin nichts anderes. Wenn ich selbst schreibe, streiche ich auch durch.
Beim Schreibenlernen nicht zu radieren fußt auf der Erkenntnis, daß der Bewegungsbogen und der gedankliche Vollzug beim Schreiben nicht unterbrochen werden sollen. Gelegentliches Radieren wäre nicht schlimm, aber häufiges Radieren führt zu einer Art "Schreibstottern". Man beobachte sich selbst, dann wird man das Gesagte nachempfinden können. Manches ist recht schwer in sprachliche Form zu gießen.
 



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