Radiergummi und Tintenkiller Erste Elternversammlung zum Schulbeginn einer ersten Klasse. Die Lehrerin legt minutiös dar, welche pädagogischen Intentionen sie verfolgen wird. Beifälliges Nicken unter der Zuhörerschaft. »Soll ich auch erzieherisch tätig werden?« »Aber selbstverständlich!« »Wir bitten darum!« »Gerne! Wir unterstützen Sie, so gut es geht!« Freude, ja Begeisterung malt sich in den Gesichtern ab. Die ersten Schulwochen gehen ruhig ins Land. Anfängliche Schreibversuche und Lockerungsübungen werden auf einer kleinen Plastiktafel absolviert. Alle sind mit Eifer dabei, Fortschritte im Können machen Freude! Die kleinen Finger sind schon recht gelenkig. Dann kommen die ersten Bewährungsproben. Für die Lehrerin. »Kinder, ab morgen fangen wir an, mit dem Bleistift ins Heft zu schreiben!« Die Kinder freuen sich wie toll. Die Lehrerin dämpft den Jubel etwas, denn sie will ja, eingedenk ihres Versprechens, erzieherisch tätig werden: »Der Radiergummi bleibt im Mäppchen, den brauchen wir nicht.« Melanie wundert sich: »Warum brauchen wir den Radiergummi nicht?« »Wenn man beim Schreibenlernen immer wieder radiert, lernt man es nicht so gut. Frage deine Mama. Ich habe das bei der Elternversammlung genau erklärt.« Melanie nickt. Es gibt eine kleine Hausaufgabe. Mit Bleistift ins Heft zu schreiben. Am nächsten Tag schaut die Lehrerin die Hefte an. Jasmin, Stefan, Gabi, Melanie – sie alle haben radiert. Bis zur Papierverdünnung. »Aber ihr wisst doch ...« Jasmin guckt unschuldig: »Meine Mama hat das gemacht.« Stefan sagt: »Die Mama hat gesagt, ich soll den Fehler ausradieren.« Gabi sagt: »Mutti hat es mir erlaubt.« Melanie sagt: »Papa hat gesagt, ich soll radieren, wenn ich Fehler mache.« Einige Wochen später dürfen die Kinder im Unterricht mit dem Füller schreiben. Wieder Jubel. Endlich gehört man zu den alten Schreibhasen. »Keinen Killer!« warnt die Lehrerin. Auf Erklärungen wie beim Radiergummi verzichtet sie schon. Der erste Killer taucht bei Stefan auf. Danach folgen Melanie, Jasmin, Gabi, Stefan, Rika, Felix und die anderen. Die Lehrerin schreibt einen Brief, sauber vervielfältigt, mit liebevoller Unterschrift versehen. »Der Tintenkiller ... der Schreibfluss ... die Ästhetik ... und überhaupt: die Erziehung und so weiter.« Am folgenden Tag steht Frau B. in der großen Pause vor dem Lehrerzimmer. Der Stefan, der Radiergummi, und schließlich tue das doch jeder. Radieren. Und so fort. Die Lehrerin erklärt und redet sich den Mund in Fransen. Sie fühlt sich unbehaglich, weiß aber nicht, weshalb. Beim nächsten Diktat gibt es Killergeschmiere. Und in Stefans Heft ist ein Loch. Ein richtiges Loch zum Durchgucken. Einer der Buchstaben - wer kann schon wissen, welcher – ist radikal verschwunden. Die Lehrerin seufzt und tut, was sie erzieherisch für richtig hält. Kommt eine empörte Frau B. am folgenden Tag, diesmal nach der vierten Unterrichtsstunde. »Das geht nun doch zu weit, dass Sie dem Stefan einen Fehler im Diktat berechnen!« Die Lehrerin hat daraufhin nie mehr etwas gegen Radiergummis oder Tintenkiller unternommen. Und Löcher im Papier als Joker betrachtet. Leerstellen, in die mit einiger Phantasie so gut wie alles hineininterpretiert werden kann. Christine Cremer |