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Gedanken über die Zeit

 
20. August 2012
Gedanken über die Zeit
Kategorien: Erziehung | Besinnliches
 

Alle Eile ist vom Teufel
(Türkisches Sprichwort)

Seit Jahren mache ich mir Gedanken über das Wesen der Zeit. Was ist Zeit? Weshalb haben wir das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben und ständig gejagt zu sein? Sind die modernen Transportmittel die Quelle der Beschleunigung unseres Daseins, der Hetze, die bis in die tiefsten Winkel unseres Daseins eindringt und dort für Unruhe sorgt?

Das Empfinden, ständig unter Zeitdruck zu stehen, ist unangenehm. Das Rezept, das wir uns selbst verschrieben haben, um dem Gehetztsein zu entkommen, ist paradox: noch mehr Eile!

„Goethe beklagte in einem Brief von einer seiner italienischen Reisen, daß die Postkutschen zu schnell führen, als daß man eine Landschaft wirklich wahr- und aufnehmen könne. Von einem IC aus kann man nicht einmal mehr die Stationsschilder durchfahrener Bahnhöfe entziffern. Fragt man die Menschen, warum sie so schnell unterwegs sind, dann antworten sie: Um Zeit zu sparen. Ein schöner Traum: Zeit sparen können. Ein Sparkonto für Zeit, dann zu nutzen, wenn die Zeit zu Ende geht; oder wenn die Zeit gekommen ist …“ (Georges Fülgraf, Entschleunigung)

Wir wissen, daß man Zeit nicht sparen kann. Ja, wir wissen nicht einmal so genau, was Zeit ist. Aber wir erleben es: die Technik erlaubt uns, immer schneller ans Ziel zu kommen – und dies nicht nur räumlich. Wie schnell ist heute dank Tastatur und Computer ein Text erstellt: dies erlebe ich selbst, während ich diese Zeilen verfasse. Wie rasch kann sich heute ein Schüler Informationen für den Unterricht aus dem Netz besorgen. Wie einfach ist es, Buchstaben auf den Bildschirm zu zaubern – das kann auch ein Kind, das noch nicht alphabetisiert ist.

Und wieder ist da dieses Paradox: je mehr Beschleunigung durch die Technik, desto weniger haben wir das Gefühl, uns ausruhen zu dürfen. Die Spirale eines unheilvollen Aktionismus setzt sich in Gang – und weil die Technik sich dazwischengeschoben hat, leidet die Wahrnehmung. Wir sind nur noch halb bei der Sache: nicht nur der Weg, sondern auch das Ziel verblassen. Wir fühlen nichts mehr außer Hetze. Helmut Qualtinger hat diese Beobachtung in den humorigen Satz gegossen: „Ich weiß zwar nicht, wo ich hin will, aber dafür bin ich schneller dort.“

Meine Bitte an Lehrer und Eltern: Schenken Sie den Kindern Zeit zum Lernen! Beschleunigen lassen sich nur Handlungen, die gewisse Ergebnisse produzieren. Mit echtem Lernen hat dies nichts zu tun, es ist bloß schöner Schein, ein Als-ob. Je schneller zudem eine Handlung abläuft, um so ungenauer wird sie durchgeführt. Der unsichtbare Geist und das Denken jedoch widersetzen sich beharrlich allen Versuchen technisierter Rationalisierung. Die effektive Wissensvermittlung gibt es nicht! Lernen ist nur ansatzweise von außen steuerbar, und es braucht vor allem eines: Zeit. Es ist unmöglich, den geistigen Lernprozeß mit Hilfe von raffinierten Mitteln beschleunigen zu wollen. Jeder Versuch, dies zu tun, kann Schaden anrichten: nicht bei allen Kindern, aber doch bei vielen. Lernen ist eng mit dem Zeitablauf verknüpft, es ist ein spiraliges Wachsen, das wir konsequent und mit Liebe anregen, aber nicht lenken oder gar „herstellen“ können.

Nehmen wir uns Zeit!

Geben wir Zeit!

Karin Pfeiffer

 
 

 
   
 

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von Ursula Prasuhn (25. August 2012, 11:25):
Auch Spielen gehört zum Lernen und braucht Zeit. Hierzu möchte ich folgenden Artikel wärmstens empfehlen:
http://www.weltwoche.ch/die-weltwoche/details/article/spielen-ist-lernen.html
 



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