Von der Wichtigkeit des praktischen Übens Besonders wichtig sind heute Übungen, durch welche die sprachlichen Kompetenzen der Schüler im mündlichen wie auch im schriftlichen Bereich trainiert werden. Nur wer sich mündlich und schriftlich sicher und gewandt ausdrücken kann, wird »das Lernen lernen«. Die Beherrschung von Sprache in Wort und Schrift wird allein durch beständiges und hartnäckiges Lernen und Üben erreicht. Das ist ohne eigenes Zutun, ohne eigene Anstrengung nicht möglich. Praxistraining ist jedem theoretisierenden Unterricht weit überlegen. Sprachbetrachtung sollte erst zu einem Zeitpunkt einsetzen, wenn sich eine gewisse praktische Sprachkompetenz entwickelt hat, niemals umgekehrt. Beim Erwerb eines Führerscheins ist das für jeden leicht nachzuvollziehen. Das Autofahren muß praktisch geübt werden und noch einmal geübt: auf der Straße, mit dem Lenkrad in der Hand. Es ist denkbar, daß jemand lernt, ein Auto zu lenken, ohne eine einzige Stunde Theorie »genossen« zu haben. Umgekehrt wird keiner dadurch praktisch verkehrstauglich, der rein theoretisch unterwiesen wurde. Betrachten wir nun die Vorgehensweise an der modernen Schule: im fortschrittlichen Unterricht sollen Kinder das Lesen und Schreiben durch bloße »Anschauung« lernen, durch »Besprechen« und »Diskutieren«, durch Lernen von »Regeln«. Man lernt viel ÜBER das Schreiben, aber das SCHREIBEN selbst wird vernachlässigt. (Ähnliches gilt auch für andere Unterrichtsinhalte, insbesondere für Mathematik.) Mit guten Erklärungen meint man Zeit einsparen zu können. Reines Üben wird als Zeitverschwendung betrachtet. Lesen und Schreiben sind tatsächlich zeitintensive Tätigkeiten. Jedoch ist es unmöglich, die Kompetenz bei Kindern beschleunigt »erzeugen« zu können durch theoretisierende Unterrichtsformen. Was man unterrichten kann und was nicht Die heute weitverbreitete Absicht ist es, Kinder meinungsbildend in allen möglichen Lebensbereichen zu »unterrichten«: Umweltschutz, friedliches Zusammenleben, Abstinenz von Drogen und Alkohol, politische Kultur, Religion, Barmherzigkeit gegenüber den Armen ... Dies alles betrifft die persönlichen Einstellungen, die, nebenbei gesagt, doch nur ein Erwachsener haben kann, der sich intensiv informiert hat und ein gewisses Bildungsniveau besitzt. Kinder mit solchen politischen Themen zu konfrontieren, heißt, das Pferd von hinten aufzäumen wollen. Ginge es allein nach den Worten, wir hätten eine perfekte Welt! Schon Aristoteles wußte, daß Tüchtigkeit nur im Handeln selbst erworben wird, und daß wir handelnd auch unseren Geist bilden. Kurz: die sittliche Haltung eines Menschen wird nicht durch theoretische Unterweisung geformt, sondern durch das Leben selbst. Was die Schule allerdings kann, was ihre eigentliche Aufgabe wäre, ist einer größtmöglichen Anzahl von Kindern die kulturellen Grundkenntnisse bestmöglich zu vermitteln. Hier liegt einiges im argen, was jedoch nicht den Lehrern selbst anzulasten ist — das sollte deutlich herausgestellt werden. Jede Zeit hat ihre Modeerscheinungen, ihre Torheiten, ihre Irrtümer. Der grundlegende und folgenreiche pädagogische Irrtum unserer Zeit äußert sich in der Auffassung, Kinder hätten in der Schule weitaus Wichtigeres zu lernen als das Lesen und das Schreiben. Demensprechend sei das Üben ebendieser Fertigkeit Zeitverschwendung. Vom selbständigen Lernen Obwohl uns heute mehr Material denn je zur Verfügung steht, um Unterricht abwechslungsreich zu gestalten, offenbart sich ein Mangel dort, wo »echte« Eigenaktivität verlangt wird; dabei wird so viel wie nie von »selbständigem Lernen« geredet. Gerade das aber macht stutzig, denn verbale Beschwörungen signalisieren in der Regel einen Mangel. So kann das bloße Kreuzchenmachen oder Lückenfüllen auf den bis ins Detail vorgefertigten Arbeitsblättern wohl kaum als »selbständiges Lernen« bezeichnet werden — es ist eher dessen Gegenteil. Als Mittel zur Übung schriftlicher Kompetenz versagt es augenfällig. Weshalb werden diese Lückentexte dann immer noch im Unterricht eingesetzt? Die Antwort ist so einfach wie ernüchternd: sie sind praktisch und zeitsparend. Wie sähe Eigenaktivität im Deutschunterricht aus? Etwa so: der Schüler schreibt die Übungen ganzheitlich in Schulhefte, er schreibt ganze Texte ab von fehlerfreien Vorlagen, er formuliert umfangreiche und vollständige Antworten zu Fragen, die er ebenfalls aufschreibt. Er liest ganze Bücher und macht Notizen dazu. Er schreibt Zusammenfassungen. Er schreibt nach Diktat, und das regelmäßig. Er schreibt Aufsätze. Das sind eigenständige Tätigkeiten, die die ganze Einsatzkraft des Schülers fordern! Das sind Tätigkeiten, die seine Sprachkompetenz fördern und festigen! Aber leider ist diese Art von Unterricht unbequem, für Schüler UND Lehrer. Das Überwachen und Korrigieren von Schülerheften ist zeitraubend. Man muß genau hinschauen, konzentriert nachlesen, und auch dafür scheint keine Zeit mehr da zu sein. Wir wissen das. Weshalb wundern wir uns aber dann, wenn unsere Schüler als logische Folge untauglicher Unterrichtsmethoden immer schwächere Leistungen im Lesen und Schreiben zeigen? |
Ich ziehe ein vorläufiges Resümee: Wenn es uns ernst ist mit der Absicht, unsere Schulkinder im Lesen und Schreiben zu unterweisen, müssen wir sie auch lesen und schreiben lassen. Wir wählen Aufgaben und Übungen, die von einem erzählenden Text ausgehen und konsequent zu diesem zurückkehren. Wir nehmen uns für diese wichtigste aller Aufgaben Zeit. Wir geben einen klaren Leistungsrahmen vor, damit dafür gesorgt ist, daß sich die Schüler (nicht umsonst!) anstrengen. Wenn wir dies alles beherzigen, werden wir sehen: die meisten Schüler werden die Herausforderung gern annehmen, denn jetzt spüren sie die Anteilnahme des Erwachsenen! Hier wächst heran, was im späteren Leben so wertvoll ist: Verantwortung auf sich zu nehmen, im Positiven wie im Negativen. Wenn Kinder spüren: das Lernen, das ist keine Spielerei, das ist ernst! Darin eingeschlossen ist nicht nur der Erfolg, sondern auch das Scheitern. Und plötzlich ist er sichtbar, der Sinn für das eigene Handeln. Ein Schulunterricht, der so gestaltet ist, ist nicht repressiv, sondern sinngebend. Die Schüler fühlen sich ernstgenommen. Nicht nur Erwachsene fühlen sich unglücklich, wenn sie keine sinnvolle Aufgabe haben. Auch Kinder wollen nicht bloß beschäftigt oder beaufsichtigt sein. Zerstreuung bietet sich in der Freizeit im Übermaß an, hier darf die Schule nicht eine Art Konkurrenz aufbauen wollen unte dem Motto: Wir können es besser als die Zerstreuungsindustrie. Kinder wollen etwas Sinnvolles leisten. Darin unterscheiden sie sich, wie gesagt, nicht von den Erwachsenen. In dem Maße, wie wir Kindern etwas zu leisten abverlangen, das sie in einem klar strukturierten Schulalltag aus eigener Anstrengung zu tun imstande sind, wird auch deren Neigung zu Aggression und »Mobbing« schwinden. Dazu gibt es bereits aussagekräftige Untersuchungen. Karin Pfeiffer |