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Lernen am Computer

 
04. August 2010
Lernen am Computer
Kategorie: Schule


Foto: Stephanie Hofschläger / pixelio 

Lernen am Computer — eine Illusion

Die Vorstellung, ein Kind könne am Bildschirm das Lesen und Schreiben erlernen, ist heute weit verbreitet. Doch gleicht dies dem vergeblichen Bemühen, mittels Computer Geige zu lernen oder sich virtuell auf einen Marathonlauf vorzubereiten. Eindimensionalität der Sinneseindrücke und Abstraktheit des elektronischen Mediums behindern das praktische Lernen eher, als daß sie dieses förderten. In der pädagogischen Praxis werden jedoch die längst bekannten Erkenntnisse der Lernpsychologie häufig ignoriert. Nach wie vor versucht man, schulisches Lernen mit Hilfe moderner Medien zu optimieren, und immer wieder erweisen sich die Maßnahmen als wenig erfolgversprechend.
Wer sind eigentlich die Befürworter des EDV-gestützen Lernens in der Schulpraxis? Welches sind ihre Motive? Neuerdings haben sie eine weitere Zielgruppe ins Auge gefaßt: die der Kleinkinder. Es drängt sich der Verdacht auf, die Fürsprecher der Computerpädagogik ließen sich nicht eben von pädagogischen Motiven leiten. Nun darf man nicht übersehen, daß die Ausstattung der öffentlichen Bildungseinrichtungen ein nach wie vor lukratives Geschäft ist, und wenn erst einmal der Computer vom schulischen Lernen genausowenig weggedacht werden kann wie Schulbuch, -heft und Bleistift, dann wird auch privat für jedes Schulkind die Anschaffung eines Gerätes unumgänglich sein. Bei allen Meldungen über Wunder, die ein Computer angeblich beim Lernen vollbringt, frage man also zunächst: Cui bono?

Eltern und Lehrer: ursprünglich dagegen
In vertraulichen Gesprächen mit Lehrern und Eltern erfährt man indes, daß sie dem computergestützten Lernen eher skeptisch gegenüberstehen. Der praktische Umgang mit Kindern zeigt dem nüchtern betrachtenden Erwachsenen, daß es Wunder beim Lernen nicht gibt. Der Weg zum Wissen und Können führt immer über den eigenen Kopf, nicht über eine Maschine. Sobald jedoch der anfängliche Widerstand gegen die Technik überwunden ist, verfallen die meisten schon nach kurzer Zeit der Eingewöhnung in eine Art Zweckoptimismus. Welcher Mensch mag schon ständig gegen das revoltieren, was ihm in den Medien und unter sanftem, aber beharrlichem Druck durch Behörden und Fachleute »empfohlen« worden ist! Eltern und Lehrer schicken sich daher in das vermeintlich Unvermeidliche. Auch vermuten sie eine breite Zustimmung bei den Mitbetroffenen. Das ist das größte Hindernis für den Entschluß, sich gemeinsam gegen eine unsinnige, teure und schädliche Maßnahme der Behörden zu wehren. Man muß jedoch wissen: öffentliche Meinung und Privatmeinung sind zweierlei! Da der Mensch die eigene Meinung grundsätzlich nicht wie ein Plakat auf der Brust vor sich herträgt, kann der Gesprächspartner seine Skepsis nicht erahnen. Nun vermutet jeder von beiden beim jeweils anderen, er stimme mit der öffentlichen Meinung überein und halte den Computer als Lernhilfe für etwas außerordentlich Gutes. So verschweigt jeder die eigene Skepsis, und lobt, was er nicht loben möchte, nur um nicht als altmodisch, dumm oder gar kinderfeindlich zu gelten. Alle bekennen sich zu einem Irrtum, an den sie selbst nicht glauben.

Lernprogramme sind in Wahrheit Unterhaltung
Es ist nicht möglich, am Bildschirm das Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Jedenfalls nicht in der Weise, wie uns das vorschwebt und nicht mit den Ergebnissen, die wir erwarten. Ohne vielfältige sinnliche Eindrücke, für die körperliche Bewegung im Raum Voraussetzung ist, findet überhaupt kein Lernen statt. Sinnliche Eindrücke verleiten zum Handeln. Handelnd erfährt der Mensch verschiedenartige Gefühle, die wiederum Bedingung sind für alles Lernen. Lernen, Bewegung und Fühlen bilden eine untrennbare Einheit.
Der Bildschirm reduziert die Hauptaktivität des Kindes auf das reglose Betrachten. Sehen jedoch ist eine einzige Dimension von vielen weiteren Dimensionen, die alle zusammen Voraussetzung sind für erfolgreiches Lernen. Plastische Eindrücke fehlen ebenso wie sensorische oder olfaktorische, das Gefühl für Raum und Zeit, das Gleichgewichtsempfinden ... all das, was menschliche Sinne zu leisten vermögen, wird am flachen Bildschirm nicht benötigt. Selbst die Töne aus dem Lautsprecher sind synthetisch. Sie kommen aus einer einzigen Richtung. Tonkonserven besitzen eine grundsätzlich andere Qualität als die realen Geräusche der Welt. Wir umgeben die Kinder mit Konserven ... Leben aus zweiter Hand. Und auf diese Weise soll das Kind etwas lernen? Es lernt tatsächlich etwas. Nur ist das etwas ganz anderes, als erwartet wird.

Kinder, die häufig vor Bildschirmen sitzen, werden in ihrer Lernfähigkeit behindert und in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt. In Wahrheit läuft bei jedem Computerlernprogramm ein Intelligenzkastrationsprogramm mit. Eltern, die sich gutgläubig und für viel Geld Lernprogramme aufschwatzen lassen, sollten sich darüber im klaren sein, daß sie Unterhaltung kaufen — und zwar schlechte! Schlechte deshalb, weil sich diese Unterhaltung in bewußter Falschaussage als Lernprogramm ausgibt und nicht als das, was es tatsächlich ist: Klamauk. Auf beschönigende Werbesprüche der Erzeuger und Händler sollte man nicht leichtgläubig hereinfallen. Verkaufsstrategische Schaumschlägerei ist nichts Unmoralisches, aber man sollte wissen, worauf man sich einläßt. Die an den Kauf eines teuren »Lernprogramms« geknüpften Erwartungen werden sich nicht erfüllen. Nichts gegen Unterhaltung am Computer! Aber wenn Unterhaltung angesagt ist, dann sollte man Unterhaltung kaufen. Wenn gelernt werden soll, nehme man von solchen Käufen Abstand.

Spontane Erfolge täuschen echtes Lernen lediglich vor
Und wie ist es mit den Erfolgsmeldungen, die der Öffentlichkeit in regelmäßiger Folge vorgestellt werden? Es mag sie geben, vordergründig positive Effekte. Sie sind wie ein Strohfeuer: plötzlich, heiß, rasch verlöschend. Lernerfolge dieser Art dauern nicht an, sie begründen kein stabiles Fundament an kulturellen Fertigkeiten. Lernerfolge am Computer sind so flüchtig wie Schall und Rauch. Gemessen wird nicht der dauerhafte Lernerfolg, gemessen wird die unmittelbar auftretende Temperatur des »Strohfeuers«.
Davon lasse sich niemand blenden: was heute als verblüffender Lernerfolg gewertet wird, ist morgen bereits vergessen. Kinder, die mit Hilfe des Computers schon im Kleinkindalter das Buchstabieren üben, mögen in diesem Moment zwar den anderen Kindern voraussein, die im Sandhaufen Straßen bauen und geduldig ihre Eimerchen füllen und wieder auskippen. Doch bereits wenige Jahre danach verkehrt sich der vermeintliche Vorsprung zur Verblüffung aller in sein Gegenteil: das Kind, welches seine Sinne in der Auseinandersetzung mit der realen Welt geschärft hat, ist zur Aufnahme des abstrakten schulischen Lernstoffes besser ausgerüstet als das früh an die synthetisch-künstliche Welt des Computers herangeführte Kind. Der »Sandhaufenspieler« lernt rascher und nachhaltiger als das frühgeförderte »Computerspielkind«. Weil letzterem die praktische Erfahrung mit der Materie fehlt, kann es abstrakte Lerninhalte nur mühsam aufnehmen. Es ist, als ob man Wasser in ein Sieb gösse: es rinnt ungehindert wieder heraus.

Wenn Ursache und Wirkung zeitlich weit auseinander liegen, wird ihr Zusammenhang verschleiert. Wir alle neigen dazu, gewisse Symptome nicht als Folge längst vergangener Fehler zu erkennen. Wenn beispielsweise bei einer wachsenden Anzahl von Schulkindern Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen diagnostiziert werden, müssen wir uns fragen, woran das liegen kann, bevor wir wirksame Maßnahmen ergreifen können. An der sorgfältig durchgeführten Anamnese jedoch hapert es. Weil die Benutzung eines technischen Hilfswerkzeuges, als welches wir den  Computer bezeichnen können, unmittelbar sichtbare Erfolge zeitigt, halten wir eine Computerkur für das beste Heilmittel gegen Lernstörungen. Nun, das ist, als ob man einem Alkoholiker Hochprozentiges verordnet, weil er danach zumindest für kurze Zeit ausgeglichen und fröhlich erscheint. Worauf es mir immer wieder ankommt, und was ich nicht müde werde zu betonen: Wir müssen auf langfristige Wirkungen achten! Bei allen Überlegungen muß der Faktor Zeit eine wesentliche Rolle spielen!

Konzentrationsschwäche, unsichere Raumorientierung,  Beeinträchtigungen in Fein- und Grobmotorik sind kein Zeichen für ein Zuwenig an theoretischer Unterweisung, sondern nachgerade das Gegenteil desselben. Sie zeigen einen Mangel an praktischer und unmittelbarer Lebenserfahrung an. Lebenserfahrung kann nur in direktem Kontakt mit der realen Welt gesammelt werden: im selbstbestimmten (nicht organisierten und überwachten!) Spiel, bei abenteuerlichen Streifzügen in die nähere Umgebung und durch lustvolle Eroberungen einer Realität aus Raum und Zeit gewinnt das Kind ein lebendiges Gefühl für die Welt, das ihm niemand vermitteln kann, weder Buch noch Computer. Der Trend, schon Kleinkindern über den eindimensionalen Weg des Verstandes die Welt vermitteln zu wollen, muß mit wachsender Besorgnis erfüllen. Die rasende Gesellschaft erfreut sich jedoch nun einmal an »Schalterlösungen«: ein Knopfdruck, und das Problem ist augenblicklich behoben! Das ist doch wunderbar. Wozu sich mühen und plagen? Und so werden wir wohl auch künftig unseren Kindern trocken-papierene Nachhilfe, Pillen und Computer zur Heilung ihrer Lerndefizite verabreichen. Schalterlösungen jedoch sind Scheinlösungen, sie sorgen für die Zementierung der bisherigen Weichenstellung. Wir wollen das Unmögliche erreichen, aber das Unvermeidliche stellt uns immer wieder ein Bein. 

Niemand sollte deshalb verzweifeln, denn jeder von uns hat es in der Hand, zumindest im persönlichen Umfeld eine Oase der Vernunft einzurichten. Ich möchte ausdrücklich dazu ermuntern, in Schule und Elternhaus Gegenmaßnahmen zu ergreifen! Doch seien Sie gewarnt: die Nebenwirkungen werden beträchtlich sein, auch wenn diese mit gewisser Zeitverzögerung eintreten — dann jedoch zur großen Freude aller!

Karin Pfeiffer

 

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von Rita Hermann (08. August 2010, 16:49):
Sehr geehrte Frau Pfeiffer,
vielen Dank für Ihre mal wieder treffenden Worte. Auch ich stehe dem Lernen am Computer sehr skeptisch gegenüber, gebe das aber nur ungern zu, weil solche Bekenntnisse tatsächlich ihre Tücken haben. Zu Recht stellen Sie fest, dass man leicht als "altmodisch, dumm oder kinderfeindlich" gilt, wenn man derlei Zweifel anmeldet. Außerdem ist für Staatsdiener eine allzu laute Meinungsäußerung sowieso heikel, weil die Obrigkeit mithört und bei dem vielen Unsinn, den sie verzapft, geradezu angewiesen ist darauf, dass die Lehrer "ihre Klappe halten". Sie schreiben "Welcher Mensch mag schon ständig...revoltieren..." und meinen uns Lehrer, die wir als Leute der Praxis oft berechtigte Einwände haben gegen geplante Maßnahmen. Kritik findet aus den erwähnten Gründen meist aber nur intern statt. Revolte - und hier möchte ich Ihnen ein wenig widersprechen - war eigentlich nie unser Ding. In der Regel kommen wir sehr schnell zu dem Schluss: "Hat ja doch keinen Zweck." Würden und dürften wir offener protestieren und nicht nur auf dem Dienstweg, wäre unser öffentliches Ansehen wahrscheinlich besser und man könnte die Folgen falscher Schulpolitik nicht so leicht auf die "faulen Säcke" abschieben. Wer Bedenken kundtut, eignet sich später schlecht zum Sündenbock. Mit freudiger Überraschung habe ich übrigens festgestellt, dass Ihr Verlag ein Buch von Ursula Prasuhn herausbringt. Vor etlichen Jahren habe ich schon mal eins von ihr gelesen mit dem Titel "Schule braucht Eltern". Ich war damals baff, wie freimütig hier eine Kollegin von ihren Erlebnissen und Erfahrungen schrieb. Als ich das Buch kurze Zeit später noch einmal kaufen wollte, war es leider vom Markt verschwunden.

Mit freundlichen Grüßen

R. Hermann
 

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