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Vergeblichkeit

 
15. Januar 2014
Vergeblichkeit
Kategorie: Anekdoten

Der Prüfling

Englischunterricht im „Grundkurs“

An unserer Schule ist der Englischkurs geteilt. Der sogenannte Grundkurs setzt sich zusammen aus den schwächsten Schülern aller Parallelklassen. Dort haben die Schüler buchstäblich keinen „Grund“ unter den Füßen.

Grundkurs 9. Klasse, Unterrichtsbeginn. Ich ersuche um Ruhe und weiß doch zugleich: genausogut hätte ich einen Wasserfall bitten können, mit dem Rauschen aufzuhören. Als der Lärmpegel einigermaßen gesunken ist, beginne ich mit dem Unterricht. Zwei Schüler heben mit den Knien den Tisch auf und schaukeln das Möbelstück in vorbildlicher Zusammenarbeit. Ich werde böse und drohe Strafen an. In den Gesichtern unterdrücktes Grinsen. Es wird wieder laut.

Schreiben schafft in der Regel eine ruhige Atmosphäre, also bekommen vier der größten Störenfriede eine Sonderaufgabe. Sie beginnen tatsächlich zu arbeiten, und es wird so ruhig, daß ich mit dem regulären Unterrichtsprogramm beginnen kann. Die Stunden beginnen bei mir mit der obligatorischen Vokabelprüfung. Ohne Vokabeln kein Englisch. Das sollte jedem Ochsen einleuchten. Aber meine Schüler sind ja keine Ochsen.

Ich rufe einen Namen auf. Das Mädchen weigert sich. „Ich habe gestern gefehlt.“

Das akzeptiere ich nicht als Entschuldigung und sage, ich würde nur alte Vokabeln abfragen. Sie weigert sich weiterhin, das ist eine glatte Sechs.

Ich rufe einen anderen Schüler auf, diesmal einen Jungen.

„Ich?“ fragt er, als hießen alle in der Klasse Uwe. Die Ich-Frage gehört zum Standardrepertoire der Schülerreaktionen, die von einem professionellen Lehrer einfach überhört wird.

Umständlich steht er auf, um nach vorn zu kommen.

„Mit Vokabelheft“, muß ich sagen. Es ist ein immergleiches Ritual.

„Mit Vokabelheft?“ fragt Uwe ungläubig.

„Mit Vokabelheft“, wiederhole ich. Es hängt mir zum Halse heraus. „Und mach voran.“

Eine Ewigkeit vergeht, bis er vor mir steht und mir das Heft vorlegt. Ehe ich danach greifen kann, hat er es wieder an sich genommen: „Moment mal. Ich muß erst die richtige Stelle suchen.“

Umständlich beginnt er zu blättern. Lachen und Feixen in der Klasse, sie genießen den Auftritt. Ich bin drauf und dran, Uwe wieder an seinen Platz zu schicken, da streckt er mit das aufgeblätterte Heftchen hin: „Hier!“ Dann stellt er sich direkt hinter meinem Stuhl in Position.

Das kann ich mir nicht bieten lassen und weise ihn an, sich vor mich zu stellen und den üblichen Abstand zu halten. Darauf geht er bis zur ersten Bankreihe und setzt sich dort auf einen leeren Stuhl.

„Aufstehen“, sage ich.

Der Prüfling steht auf und lümmelt sich gegen den Tisch.

Ich tue so, als sähe ich das nicht und beginne mit dem abfragen.

„Männlich?“

Grinsen in der Klasse.

„Männlich?“ echot Uwe.

„Auf englisch“, höre ich mich sagen, völlig überflüssigerweise.

In den Zuschauerreihen brodelt es vor Vergnügen.

„Männlich, männlich“, murmelt Uwe und betrachtet interessiert seine eigenen Schuhspitzen, die, wie ich sehe, ziemlich schmutzig sind.

Jetzt schnellen einige Finger in die Höhe. Die meisten gehören zu den Mädchen.

„Male?“ sagt eine, es klingt wie eine Frage.

„Richtig, male“, sage ich. Und dann wieder zu meinem Prüfling gewendet, der wie eine kaputte griechische Säule schräg am Tisch angelehnt steht.

„Ausbildung.“

„Ausbildung?“

„Stornieren.“

„Stornieren?“

So geht es weiter. Er kann nichts. Keine einzige Vokabel.

„Fünf.“

„Five!“ ruft er und strahlt.

„Setzen“, fünf!

„Was?“ fragt er. „Fünf?“

Wie ein begossener Pudel steht er plötzlich da, ganz ohne sich anzulehnen. „Aber wieso denn?“

„Setz dich“, sage ich.

Er protestiert: „Das ist ungerecht. Ich konnte ja nicht mal nachdenken.“

„Wir machen bei Lektion 6 weiter, Seite 38.“

Sie holen die Bücher heraus und blättern. Der unglückliche Prüfling steht noch immer vor mir. Erst nach einer weiteren Aufforderung geht er zurück an seinen Platz, kopfschüttelnd. Die Sitznachbarn empfangen ihn mit unverhohlener Schadenfreude. Spottend klopfen sie ihm auf die Schultern. Bis sie selbst dran sind. Dann läuft es umgekehrt.

Inzwischen ist die Hälfte der Unterrichtsstunde rum, zumindest das haben sie erreicht, und sie erreichen es in jeder Stunde.

 

Karin Pfeiffer
(1979)

 
Und? Hat sich etwas geändert seither?
Ich wäre auf Wortmeldungen gespannt.
 
 

 



Kommentare zu diesem Beitrag:
von St. M. (15. Januar 2014, 20:28):
Das kommt mir sehr bekannt vor. Wie tröstlich, dass solche Situationen auch andere kennen.
 
von Uta (15. Januar 2014, 22:19):
Nein, geändert hat sich nichts. Im Gegenteil.
Mich wundert nur, dass anno 1979 schon möglich war, was heute fast an der Tagesordnung ist. Und nicht nur bei den "schwächsten Schülern", die gehäuft Verhaltensprobleme haben.
 

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