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In der City und im Hochgebirge

 
10. August 2007
In der City und im Hochgebirge
Kategorie: Erziehung
oder: Was verbindet diese Kinder?
 


foto: pixelio

Liebe Leser,
das kennen Sie sicher: Man bummelt durch die Fußgängerzone einer Stadt. Aus einer Seitengasse nähert sich schrilles Kleinkindgeschrei. Es steigert sich, schwillt an, überlagert schließlich die akustische Landschaft. Die Tonlage ist teils aggressiv-fordernd, deutlich heraushörbar sind Hoffnungslosigkeit und unendliche Verzweiflung. Nun kommt die Quelle des Lärms in Sicht: Einjähriges im Sportwagen. Der kleine Körper bäumt sich auf, kämpft voller Energie gegen einen unsichtbaren Feind. Die junge Mutter schiebt mit echtem oder gespieltem Gleichmut Sportwagen samt kreischendem Inhalt vor sich her. Dem phantastisch sich verkrümmenden und puterrot angelaufenen Kleinkind wird wenig Achtung geschenkt. Gelegentlich bekommt das Kind den Schnuller in den Mund gesteckt — oder es wird ihm alternativ etwas Eß- bzw. Trinkbares gereicht. Diese unerhörte Zumutung wird prompt ausgespieen.

Kulissenwechsel, nur die Personen sind andere. Der Sportwagen nicht ganz so elegant. Wieder Sirenengeheul, Aufbäumen, halbherzige wie vergebliche Beruhigungsversuche. Wir sind in einem Kaufhaus. Die sehr junge Mutter begutachtet Dessous. Das Kleinkind kippt mehrmals fast aus dem Gefährt. Unkonzentriert unternimmt die Mutter einen Versuch, das brüllende Kind hochzunehmen; dieses macht sich steif wie ein Brett und kreischt, als sei sein Leben in Gefahr. Die Mutter wendet sich lieber wieder den Textilien zu, die sind einfacher zu handhaben.

Dritte Szene, diesmal in freier Natur. Den steinigen Pfad zum Alpengipfel schreiten wir zügig voran. Es ist kurz nach Mittag, die Sonne brennt. Da kommt uns in schneller Fahrt ein Mountainbiker entgegen. Auf dem Gepäckträger hopst und baumelt etwas Rotgelbes. Ein Ball? Als der sportliche Biker an uns vorübersaust, erkennen wir: der Ball, das ist ein Kinderkopf!
Im Fahrradsitz das kleine Mädchen ist etwa ein Jahr alt. Es trägt einen rotgelben Sonnenschutz. Auf dem holprigen Pfad schleudert das Kinderköpfchen haltlos hin und her. Die Muskulatur des Einjährigen ist noch nicht kräftig genug, um den Kopf bei heftigen Stößen und plötzlichen Richtungsänderungen stabil zu tragen. Uns bleibt der Mund offen stehen, und bevor wir unsere Sprache wiederfinden, sind Mann und Kind schon außer Rufweite. Das Bild des haltlos baumelnden Kinderkopfes bedrängt mich bis heute. Was mag aus dem Kind geworden sein?

Verzweifelt brüllende Kleinkinder in der Stadt und das körperlich in Gefahr gebrachte Einjährige auf dem Alpengipfel — was verbindet sie? Es ist die Gedankenlosigkeit ihrer Eltern, der Verlust jeden Gespürs dafür, was man einem Kind geistig und körperlich zumuten darf und was nicht. Uns Menschen fehlt der Instinkt, der zum Beispiel die Tiere anleitet, das Richtige zu tun. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch seine Kultur. Er hat sie mit der Einbuße seines Instinkts bezahlt und ist nunmehr darauf angewiesen, bestimmte zum Überleben notwendige Verhaltensweisen von erfahrenen Mitgliedern der Gesellschaft lernen zu müssen. Bei der Weitergabe dieser Verhaltensweisen scheint die moderne Gesellschaft zu versagen. Viele junge Menschen wissen anscheinend nicht mehr, wie nötig ein Kind neben Anregung auch Ruhe und Schonräume braucht, wo es seine körperlichen und geistigen Anlagen ungestört entfalten kann.
Das Kind in der Großstadt kann sich selbst nicht vor Reizüberflutung wehren. In einer wenig rhythmisierten Umwelt leidet es an Dauerstreß, ist ständig übermüdet und kann sein Unwohlsein und seine Verzweiflung nicht anders als durch Dauergebrüll ausdrücken. Der sportliche Vater auf dem Alpengipfel meint es besonders gut, wenn er sein Töchterlein überall hin mitnimmt. Doch hält er das Kind wohl für eine Art Puppe. Ihm ist nicht klar, daß gewisse Voraussetzungen in der Entwicklung des Kindes erfüllt sein müssen, ehe er sein Kind solch gewaltigen körperlichen Strapazen aussetzen kann.
Einschränkungen in der persönlichen Lebensführung zugunsten des Kindes werden aus Unwissenheit weder hier noch dort als nötig erachtet. Diese jungen Eltern handeln nicht aus Rücksichtslosigkeit oder gar Böswilligkeit. Sie wären entsetzt, wenn sie begriffen, wie ihr Verhalten sich auf das Kind auswirkt. Ob man ihnen das klarmachen könnte, ist allerdings eine andere Frage. Denn gedankenloses Verhalten Kindern gegenüber ist inzwischen weit verbreitet und wird daher von vielen Erwachsenen bereits als normal betrachtet. Alles ist möglich, alles ist machbar, Schonraum für Kinder und Rücksicht auf deren Befindlichkeit sind dann wohl irgendwie »von gestern«.

Karin Pfeiffer

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