Buchsuche:
  Startseite
 
Tagebuch:
mal ernst, mal heiter
Kunden in der Schweiz Kunden in Österreich Der Stolz Verlag stellt sich vor Kontakt  

Cherry ist jetzt im Hundehimmel

 
24. November 2013
Cherry ist jetzt im Hundehimmel
Kategorien: Newslettertexte | Besinnliches
 
 

Im Jahr 2009 habe ich meinem kleinen Hund Cherry einen Newsletter gewidmet. Gestern haben wir ihn einschläfern lassen. Cherry war sehr krank in den letzten Wochen, und der Tod bedeutet für das Tier eine Erlösung. Bis zuletzt lag der Hund mit seinem Kopf auf der Stoffmaus. Im Jahr 2009 hatte ich dieser Maus einen Newsletter gewidmet, denn dieses war für kurze Zeit das bevorzugte Aggressionsobjekt für meinen Hund: Cherry biß der Maus immer wieder die Augen ab. Es war die Zeit, da er seine emotionale Verwahrlosung noch nicht abgelegt hatte. 2004 kam der Hund zu uns, hochverstört und aggressiv gegen Sachen. Ein geregeltes, liebevolles Zuhause hat ihm diese Aggression innerhalb weniger Wochen völlig ausgetrieben. Er wurde zum zahmsten, dankbarsten und liebevollsten Begleiter. In den letzten schmerzgepeinigten Lebenswochen lag Cherry meist in inniger Umarmung mit dem Stofftier auf seinem Lager.

Wer in enger Verbindung mit Tieren lebt, ist sicher, daß Tiere eine Seele haben. Und wenn uns ein geliebtes Tier verläßt, entsteht eine schmerzhafte Lücke in unserem Leben. Das Hundelager am Flur ist jetzt leer. Eine zerstrubbelte Stoffmaus liegt dort, mit unversehrten Knopfaugen, die ins Leere blicken. 

 
Das Mäuschen — jetzt ganz einsam.
 

Ich habe mich entschlossen, den Newslettertext aus dem Jahr 2009 hier noch einmal einzustellen, da er aus pädagogischer Sicht von ungebrochener Aktualität ist. Gleichzeitig sei meinem braven Hund ein Denkmal gesetzt.

Das Leben ist voller Verluste. Kein Handy, kein Computer, keine 1000 Freunde im facebook, keine Come-togethers, keine politischen oder sozialen Versprechungen welcher Art auch immer können Kinder und Erwachsene vor aufwühlenden Lebenserfahrungen bewahren.

 

Hier also der Text aus dem Jahr 2009:

Ich habe ihm jetzt Augen drangenäht
 

 

 

 

Liebe Lehrer!
Liebe Eltern!

Von Zeit zu Zeit stecke ich Kissen und Decken unseres Hündchens in die Waschmaschine und säubere seinen Schlafplatz, um zu verhindern, daß dort allzu viele ungebetene Kostgänger Asyl beantragen und erhalten. Auch die graue Stoffmaus kommt in die Trommel. Daß sie bislang keine Augen hatte, kommt nicht vom häufigen Waschen. Die Augen fehlten von jenem Moment an, als Hund und Maus gemeinsam bei uns einzogen. Mit der Maus hat es nämlich so seine Bewandtnis. Dazu möchte ich dem geschätzten Leser eine kleine Geschichte erzählen; eine Geschichte, die uns etwas über Wesen, Ursprung und Voraussetzungen der Friedfertigkeit verdeutlichen wird.

Die Maus wird »totgebissen«
Es ist gut fünf Jahre her, als ich um die Jahreswende eine Mail erhielt: »Dies ist Cherry, eine Mischlingshündin. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie angekettet in einer Garage. Das Tier sucht ein liebevolles Zuhause. ...« Das angefügte Foto zeigte einen schwarz-weißen Mischling mit Fledermausohren. Die Entscheidung fiel rasch. Am nächsten Tag hielt das Hündchen bei uns Einzug. Mit ihm kamen eine beige Wolldecke und die besagte graue Stoffmaus, lang wie ein Unterarm. Mitfühlende Kinder der Familie, in welcher der Hund vorübergehend betreut worden war, hatten ihm die Maus als Spielzeug mitgegeben. Und diese Maus bildete nun das Ziel seiner hochaggressiven Attacken. Er packte das Stofftier am Hals und schüttelte es wild hin und her. Er schleuderte es rund, als sei er ein Wäschetrockner. Dabei geriet er in Rage und verbiß sich in den unterlegenen »Gegner«. Dessen Nähte platzten schließlich. Schaumstoffbrocken quollen heraus und verstreuten sich im Vorhaus. Offensichtlich fand hier eine symbolische Tötung statt.

Ich hatte dies aus einiger Entfernung beobachtet. Das Schauspiel löste in mir Beklemmung und Abwehr aus. Seit Kindesbeinen kann ich nicht sehen, wenn Puppen, Teddies oder anderes Spielzeug — auch technisches Gerät! — mutwillig oder durch einen Akt der Aggression beschädigt oder gar zerstört werden. Puppen und Stofftiere besitzen für mich eine Art »Seele«. Noch heute erfüllt es mich mit Abscheu, wenn auf Festen oder Demonstrationen Strohpuppen verbrannt werden. Form und Inhalt betrachte ich als zusammengehörig. In dieser Beziehung habe ich nie die magische Welt des Kindes verlassen.
Dem Treiben des Hundes mochte ich deshalb nicht mehr weiter zusehen. Ich nahm die »schwerverletzte« Maus vom Boden auf und bedeutete dem Hund durch Sprache und Gesten, daß ich diese Mißhandlung nicht dulde. Neugierig schaute das Tier mich an. Es beobachtete aus einiger Entfernung, wie ich das Nähzeug aus der Schublade holte. Es kam näher, um mir dabei zuzusehen, wie ich die Schaumstoffwürfel in die Hülle zurückstopfte und die Nähte zuflickte. Dabei sprach ich liebevoll und geduldig zu dem Hund: »Laß das Mäuschen in Ruhe!« An der wiederhergestellten Figur schnupperte ich nach Hundeart. Ich streichelte die Plüschfigur und sagte: »So, liebes Mäuschen, jetzt geht es dir wieder gut!« Ich streichelte und umarmte nun beide, Mäuschen und Hund, und dann legte ich das Stofftier zurück in den Hundekorb.
In den nächsten Tagen war noch zweimal ein kurzer, lenkender Eingriff nötig. Und jedesmal zeigte ich dem Hund, daß ich ihn ebenso schätzte wie das Stofftier. Seither führt die Maus ein ruhiges Leben im Hundekorb: als Kopfstütze oder Augenschutz.

Ketten erzeugen Aggression
Nicht nur Hunde liegen an Ketten. Auch andere Tiere oder Menschen sind festgebunden, oft ohne sich dieses Umstandes bewußt zu sein. Ungünstige Lebensverhältnisse behindern dabei, das eigene Leben selbst einzurichten und nach einem natürlichen Rhythmus zu strukturieren. Das macht unglücklich, apathisch oder aggressiv. Viele unserer Sitten und Gebräuche haben einen großartigen Sinn: sie gliedern das Dasein, sie verschaffen dem Leben den Rhythmus im Pendeln zwischen Gegensätzen, die sinngebend sind. Denn keine Empfindung, keine Tätigkeit, kein Erlebnis kann einen Wert haben, wenn nicht dessen Gegenteil zeitweilig eintritt. Die Natur zeigt es auf perfekte Weise. Es wechseln Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit, Kälte und Wärme, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit. Diese Gegensätze machen Leben erfahrbar und ermöglichen Orientierung. Tiere oder Menschen, die gefangen sind, können diesen Naturrhythmus nicht leben, werden krank oder aggressiv. Indem mein kleiner Hund nun — wohl zum erstenmal in seinem Leben — erfuhr, wie täglich dieselben Ereignisse zur selben Zeit eintraten, eine Wiederkehr des Verläßlichen sozusagen, gewann er an Sicherheit und Selbstbewußtsein. Artgerechte Regeln sind keine Last, sie geben vielmehr Halt und Orientierung und wirken sinnstiftend. Jedes Lebewesen ist auf der Suche nach dem Sinn seines Daseins.

Rhythmus und Lebensplanung
Die ständige Wiederkehr des Gleichen ist im Plan der Natur fest verankert. Der Rhythmus im Wechsel beseitigt das Chaos* und schafft Ordnung durch Beständigkeit. Ordnung ist die Voraussetzung planenden Handelns, denn jeder Plan ist auf die Zukunft gerichtet, die wir nicht kennen. Zum Planen braucht man Mut. In einem geordneten Dasein wächst das Vertrauen, denn die Erfahrung zeigt, daß die erwarteten Ereignisse eintreten. Die Sonne erhebt sich täglich im Osten. Bei Sonnenaufgang kommt ein Mensch und bringt Futter. Am Abend sind die Eltern da, und eine Mahlzeit steht auf dem Tisch. So entsteht Vertrauen — bei Tier und Mensch! Du bist in dieser Welt nicht Spielball, sondern willkommen! Der Fortfall existentieller Nöte bildet den Nährboden der Liebe. Der Wunsch erwacht nach einer sozialen Aufgabe, die zu erfüllen höchstes Lebensziel eines seelisch gesunden Menschen ist. Rituale, Gebräuche und Verhaltensregeln sind also nicht aus einer Willkür und Laune eines Herrschers entstanden, sondern bilden für sich eine höhere Lebensweisheit, die wir zu unserem eigenen Wohle annehmen sollten. Das Chaos der Beliebigkeit stürzt Tier- und Menschenkinder in psychische Abgründe, aus denen sich zu retten Zerstörungslust und Aggression als Hauptwerkzeuge dienen. Wiederholungen sind Zutaten zum gelingenden Leben, in dem nichts aus schierer seelischer Not kaputtgeschlagen, verbrannt oder zerstückelt werden muß. Rhythmisch dargebotene Rituale bieten Stütze und Trost, deren jedes lebendige Wesen bedarf — sei es nun ein Mischlingshund, ein Kind oder ein Erwachsener. Auch die Pflanzen verlassen sich darauf, daß nach jeder Nacht ein neuer Tag, und nach jedem Winter ein neuer Frühling kommt ... Das Leben besteht aus Rhythmus, eine ewige Wiederholung, die Vertrauen schafft.

Alles ist gut
Seit dieser ersten Beiß- und Tötungsorgie sind gute fünf Jahre vergangen. Und heute nun habe ich dem Mäuschen endlich Augen angenäht. Das Augenpaar suchte und fand ich in einer Schatulle voller verschiedenartiger Knöpfe. Diese Schatulle hatte einst meinem Vater gehört. Er war Schneider gewesen. Ich fand zwei Knöpfe von gleicher Größe, Farbe und Form. Als Augen schienen sie mir gut geeignet. Beim Annähen spürte ich so etwas wie Sentimentalität: Wenn doch jeder Mensch Grenzen, Freiheit, Eigentum und damit das Eigentümliche des anderen achtete und schätzte, wäre die Welt nicht eine andere?
Das Annähen von Knopfaugen ist ja leicht erledigt. Doch nicht allen Zerstörungen kann man so einfach mit Nadel und Faden beikommen. Auch wenn man etwas so Wertvolles wie eine Schatulle voller Knöpfe aus dem Nachlaß des Vaters besitzt.

Karin Pfeiffer


*Anmerkung:
Massenschulen widersetzen sich aus organisatorischen Gründen der Bildung eines ordnenden Rhythmus, bieten kaum  eine Heimat für ruhelose Seelen, fördern Bindungslosigkeit und Aggression.

 

 
Mäuschen im Jahre 2004 --unversehrt bis zuletzt
 
 


Kommentare zu diesem Beitrag:
von D. L. (25. November 2013, 13:14):
Eine wunderbare Hundegeschichte mit der elementaren Lebensweisheit: "Artgerechte Regeln sind keine Last, sie geben vielmehr Halt und Orientierung und wirken sinnstiftend."
 
von X. Y. (25. November 2013, 20:39):
Kann Ihrem Kompliment nur beipflichten, werte/r D. L.
Eine einzige Aussage will in meinen Kopf allerdings nicht so recht hinein: "Jedes Lebewesen ist auf der Suche nach dem Sinn seines Daseins". Da bin ich mir im Unklaren, ob das bei Tieren und Pflanzen so stimmt.
 
von River (09. Juli 2017, 02:54):
You've got it in one. Co'dnlut have put it better.
 

Nach oben

Tagebucharchiv:
März 2017
Februar 2017
November 2016
September 2016
Mai 2016
April 2016
März 2016
Februar 2016
Januar 2016
November 2015
Oktober 2015
August 2015
Juli 2015
Juni 2015
Mai 2015
März 2015
Februar 2015
Januar 2015
Dezember 2014
November 2014
Oktober 2014
September 2014
August 2014
Juli 2014
Mai 2014
März 2014
Januar 2014
Dezember 2013
November 2013
Oktober 2013
September 2013
August 2013
Juli 2013
Juni 2013
April 2013
März 2013
Februar 2013
Januar 2013
Dezember 2012
November 2012
Oktober 2012
September 2012
August 2012
Juli 2012
Juni 2012
Mai 2012
April 2012
März 2012
Februar 2012
Januar 2012
Dezember 2011
November 2011
Oktober 2011
September 2011
August 2011
Juli 2011
Juni 2011
Mai 2011
April 2011
März 2011
Februar 2011
Januar 2011
Dezember 2010
November 2010
Oktober 2010
September 2010
August 2010
Juli 2010
Juni 2010
Mai 2010
April 2010
März 2010
Februar 2010
Januar 2010
Dezember 2009
November 2009
Oktober 2009
September 2009
August 2009
Juli 2009
Juni 2009
Mai 2009
April 2009
März 2009
Februar 2009
Januar 2009
Dezember 2008
November 2008
Oktober 2008
September 2008
August 2008
Juli 2008
Juni 2008
Mai 2008
April 2008
März 2008
Februar 2008
Januar 2008
Dezember 2007
November 2007
Oktober 2007
September 2007
August 2007
Juli 2007
März 2007
Februar 2007
Januar 2007
Dezember 2006
November 2006
Oktober 2006
September 2006

Veranstaltungen:



[ Seite weiterempfehlen | Seite zu Favoriten hinzufügen | Druckversion dieser Seite anzeigen ]