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Wiederkennen, anerkennen (Teil II)

 
28. April 2010
Wiederkennen, anerkennen (Teil II)
Kategorie: Erziehung

Rituale und Wiederholungen in der Pädagogik
(Teil II)
von Karin Pfeiffer

(Teil I: siehe hier)

Jede Beschränkung der körperlichen Sinne ist auch eine Beschränkung der Welterkenntnis. Helen Keller war einer schweren Erkrankung im frühen Kindesalter zufolge blind und taub geworden. Im Dunkel des Nichtsehens, im Schweigen des Nichthörens blieb ihr hauptsächlich der Tast- und Gleichgewichtssinn. Das Mitleid raubte den Eltern die Kraft, dem Kind pädagogische Grenzen zu weisen. Allzugroße Nachgiebigkeit aber ist nicht Liebe, sondern Ausdruck von Führungsschwäche. Was als freundliches Entgegenkommen gemeint ist, erzeugt das Gegenteil des Erwarteten. Die Nachteile der Inkonsequenz zeigten sich in der Familie Keller auf drastische Weise und störten nachhaltig den Familienfrieden. Helen war kein böses Kind — sie war lediglich verzweifelt. Das Mädchen konnte in den willkürlich schwankenden Handlungen der Erwachsenen kein Muster entdecken: Muster zeigen sich in rhythmisch wiederkehrenden Ereignissen und Motiven. Motive bestehen aus geschlossenen Einheiten mit deutlich wahrnehmbaren Grenzmarkierungen. Ein Mensch, dem sich kein Muster der Außenwelt zeigt, verfällt in Starre oder Panik und schließlich in Debilität oder Wahnsinn.

»Wenn ich mich auf eine gewisse Weise verhalte, erfolgt etwas Bestimmtes, das mir vertraut ist.«
Helen Keller hatte das Glück, daß die verzweifelten Eltern eine Erzieherin engagierten, die bereit war, die bitter notwenigen Grenzen zu setzen. Die ungewöhnliche Frau besaß den Mut, sich dem Toben des Kindes zu stellen. Sie ertrug Angriffe auf die eigene Person, hielt aus, was jeder Erwachsene aushalten muß, sobald er sich als »stellvertretende Grenzmarkierung der Welt« darbietet. Helens Erzieherin schreckte nicht davor zurück, das verzweifelt um sich schlagende Kind festzuhalten — ihm also dort physisch Halt zu gewähren, wo die übrigen Sinne versagten. In der verläßlichen Wiederholung gewisser Verhaltensweisen bildete sich nun für Helen eine Abfolge von erkennbaren Erlebnismustern heraus: »Wenn ich mich so und so verhalte, dann erfolgt dies und das.« Das macht Leben berechenbar. Ein Zeitgefühl bildet sich heraus: das verstandesmäßige Erfassen von Vergangenheit und Zukunft. Eine vernachlässigte Größe im Lernprozeß ist die Zeitdimension; und dies, obwohl sie eine wesentliche Konstante bildet. Lernen ist ein Prozeß.

Erzieherverhalten, welches geduldig Grenzen setzt und Muster bildet, erfordert Geduld und Konsequenz. Allmählich zeigte sich bei Helen Erfolg, sie lernte zu »lauschen« — auf ihre Art hinzufühlen, dem Leben nachzuspüren, nachzusinnen. Noch besaß sie keine Worte, um in unserem Sinne zu »denken«. Doch die neugewonnene Sicherheit, die zunehmende Kontrolle über den eigenen Körper, sie äußerte sich in Form von Neugier: Helen war bereit, die Sprache der Menschen zu lernen. Die Dinge rings um sie herum erhielten Namen, das Abstraktionsvermögen wuchs. Aus der Dumpfheit des begriffsleeren Dahinvegetierens trat das Kind Helen allmählich in die Literalität des geschriebenen und gesprochenen Wortes ein. Die sich ständig wiederholenden Muster und die geduldige Einweisung durch die Lehrerin hatten ein Wunder vollbracht: der jähzornige Wildfang wandelte sich zu einer liebenswerten Persönlichkeit. Das war die Grundlage für alles Lernen. Helen brachte es bis zur vielbeachteten Schriftstellerin.

Was für Helen galt, gilt auch heute — für alle Kinder
Wenn hier auch von einem taubblinden Kind die Rede war, so kann doch das Muster des Lernens vollständig auf das gesunde Kind übertragen werden.
Kennenlernen und Wiedererkennen setzen die verläßliche Wiederholung derselben und ähnlichen Muster voraus. Diese Muster erzeugen das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben, wodurch Sicherheit und Selbstbewußtsein wachsen. Ein Kind, das erlebt, wie das Erwartete tatsächlich eintritt, entwickelt Vertrauen ins Leben und Selbstsicherheit im Handeln. Selbständigkeit erwächst aus dem Vertrauen in die eigene Kraft. Jedes Lernen ist auf eine solche innere Haltung angewiesen. Am Schicksal Helens lernen wir, wie wichtig dabei die Rolle der Erwachsenen ist. Wir erkennen, daß Nichterziehung das Kind in größte Nöte stoßen kann und daß einfühlsame Erziehung dem Erwachsenen Opfer vorübergehend abverlangt.

Nur erklären allein bringt keinen Lernerfolg
Ist es notwendig, daran zu erinnern, daß Lernen kein rein verstandesmäßig zu lenkender Vorgang ist? Das Kind von heute hört täglich: »Das mußt du lernen!« Wortreiche und bildhafte Erklärungen begleiten die Anweisung. Die einmalige Instruktion reicht jedoch nicht aus, um Lernen in Gang zu setzen. Vergessen wir nicht allzuleicht, daß das, was uns selbst aus langer Übung vertraut ist, dem Kinde als völlig fremd erscheint? Das Fremde wird nicht durch einen einmaligen Kontakt zum Vertrauten. Jede noch so gelungene Erklärung, jede noch so methodisch raffinierte Vorführung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß damit der Lernprozeß lediglich angestoßen wird. Das Lernen als Einverleiben des Neuen kann wiederum nur in unzähligen Variationen der Wiederholung bestehen, im Erproben und Handeln, im fortgesetzten Erfahren ewiggleicher Muster, die lediglich in Winzigkeiten voneinander abweichen. Ohne Wiederholung gibt es kein Lernen. Ohne Ritualisierung keine Automatisierung, kein Können. Ohne Erinnerung an Vergangenes kein Wiedererkennen in der Gegenwart. Ohne Vertrauen auf Bekanntes kein Planen in die Zukunft! Lernen braucht Zeit!

Wiedersehen macht Freude
Das Erlebnis des Wiedererkennens weckt Freude. Der Wanderer kommt an einem bekannten Wegkreuz vorüber und freut sich. Der Tourist erkennt einen Ort, den er bereits vor Jahren aufgesucht hat. Ein bekanntes Gesicht begegnet einem in einer Menge unbekannter Menschen. Eine Melodie aus Kindertagen weht durch den Abendwind heran. Ein sich wiederholender Sprachreim ist als Erzählfigur in eine Geschichte eingewoben. Das Wiedererkennen von Wörtern, Begriffen oder Wissensfragmenten zaubert ein Leuchten auf Schülergesichter.
Halten wir fest: Der Gang in intellektuelles Neuland ist wie eine Fahrt ins offene Meer. Inseln des Wissens bilden schützende Stützpunkte: Die Asyle des Vertrauten werden angesteuert zum Ausruhen, Krafttanken und Mutschöpfen. Rituale und bekannte Orte bilden die Sicherheitsstützen beim Gang ins unbekannte Gelände. Fehlen die Hilfen der wiedererkannten Orte, dann stürzen Kinder in die Not der Orientierungslosigkeit, sie erleiden die Qual des ständigen Sichentscheidenmüssens ohne Garantie. Wiedererkennen durch Wiederholen hingegen schafft Atempausen und macht das Lernen zu einer Entdeckungsfahrt ins Unbekannte mit Rückendeckung durch das Vertraute - Endeckerlust und geistiges Wachstum können sich unter diesen Bedingungen ungehindert entfalten, selbst unter schwierigen Bedingungen, wie uns das Beispiel Helen Keller lehrt.

Karin Pfeiffer

 
 

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